Vor acht Jahren sind wir nach Friedenau gezogen, fast ungewollt. Umziehen wollten wir schon, aber dass es nach Friedenau ging, war Zufall gewesen. Es lag an der Wohnung, nicht am Kiez, der auf meinem Stadtplan zuvor keine Rolle gespielt hatte. Ich kannte die Gegend im Südwesten wie ein Tourist, war mit Hamburg oder Frankfurt besser vertraut und stand dem sofort einsetzenden Spott der Freunde daher ratlos gegenüber. „Warum ziehst Du in die Vergangenheit?“, fragte mein Bruder, und eine junge Autorin trat einen halben Schritt zurück, musterte mich abschätzig: „So alt wirkst Du doch nicht. Hast Du mit dem Leben abgeschlossen?“ – „Das kann ich mir leisten“, war die einzige Replik, die mir einfiel; dazu noch die Verlegenheitsauskunft, dass man in einer Viertelstunde am Ku’damm sei. Dessen unbeholfenes Streben nach Eleganz, das Westberliner Metropolengetue, hatte ich immer gemocht. Außerdem musste ein Großstadtbewohner nicht im Kiez hocken bleiben. Eine neue Nachbarschaft schien gut, wenn die Nachbarn einen nicht beachteten und auf soziale Kontrolle verzichteten, wenn man schnell wegkam und nachts bequem zurück. Hip war man selber oder eben nicht. Das war doch keine Frage der Adresse. Jahrelang hatte ich in Friedrichshain auf der Rennstrecke zwischen Berghain und Simon-Dach-Straße gehaust, Touristen den Weg in die umliegenden Clubs gewiesen und das Partytreiben enthemmter Provinzler direkt vor meinem Schlafzimmerfenster anhören müssen, ohne dass ich dadurch an Coolness gewonnen hätte. Aber nach Friedenau, das glaubten viele, zog man einfach nicht. Das war jot weh deh.
Beim ersten Arztbesuch in der neuen Wohngegend fiel die Begrüßung freundlich aus: „Sie sind aus München hergezogen?“ „München“ sprach die Sprechstundenhilfe so freudig aus, als erwarte sie einen Lottogewinn oder doch wenigstens ein stattliches Trinkgeld. Die Auskunft, ich sei seit Jahrzehnten Berliner, habe vorher in Friedrichshain gewohnt, ließ ihr Lächeln einfrieren: „Das ist für uns hier sehr weit weg.“ Damit war die Aufgabe benannt. Wir mussten herausfinden, ob und wie wir Nachbarn werden wollten, wie viel soziale Nähe uns angenehm war, welchen Wert wir dem Kiez zubilligen würden. Das geschah in drei Phasen: Abwehr, Verwicklung, Verweigerung; Verweigerung nicht der Nachbarschaft, sondern der Frage.
Im Haus selber gab es keine Chance, sich herauszuhalten. Kaum waren wir eingezogen, begannen Schwammsanierung und Dachgeschossausbau durch einen Herren, dem die Bewohner mehr als gleichgültig waren. Er ließ das Dach abdecken und registrierte ungerührt, dass die Herbstregen die Mauern bis in die unteren Stockwerke durchfeuchteten. Die Hausverwaltung zog sich ins Schweigen zurück. So lernten wir die Mitbewohner kennen, unter Stress, in Verzweiflung, mit Trotz, und lebten im Haus, über das im Kiez geredet wurde, weil die Gerüste nicht wichen. Der Alltag war abwechslungsreich, aber nicht erfreulich. Ich fuhr wie immer kreuz und quer durch Berlin und meckerte, wenn ich nach Einbruch der Dunkelheit über die Dächer Friedenaus in Wilmersdorfer Fernen schaute: „Ich will zurück in die Stadt.“ An anderen Stationen meines Berliner Lebens, ob in Marzahn, Mitte oder Friedrichshain, hatte ich in der Erwartung gelebt, dass jeder Augenblick eine Überraschung bringen, jeder Abend in einem kontrollierten Exzess ausklingen könnte. Die Straßen im neuen Kiez aber sagten: „Vergiss es!“ Das sympathische Ehepaar aus dem ersten Stock, das schon ein halbes Jahrhundert dort wohnte, erzählte, dass früher im Erdgeschoss unseres Hauses ein Sexkino betrieben worden war. Das schien mir zur Gesamtatmosphäre zu passen, die mehr an die Achtzigerjahre als an die neue Hauptstadt erinnerte. Man sah von hier aus nicht den Fernsehturm, und die engen Straßen strahlten jene Ruhe und Behaglichkeit aus, die Friedenau auch von Wikipedia attestiert wird. Als lebte ich auf dem Dorf, standen die Menschen gern in kleinen Grüppchen zusammen und plauderten. Worüber sprachen sie so lang? Über die Parkplatzsuche und das Angebot der vielen Weinläden, vermutete ich. Ich wollte zurück in die Stadt, wo die Touristen waren, vor den Clubs gelärmt wurde und Hunderte sich um eine kleine Wohnung balgten; dorthin also, wo Berlin den Zeitungsberichten entsprach, aufgeregt, gestresst und sexy war, rau, unfreundlich, noch immer dabei, sich neu zu erfinden. Friedenau blieb ruhig. Hier wurde eher renoviert und verschönert, als das Neue gewollt, Avantgarde probiert. Das größte Ereignis seiner jüngeren Geschichte schien mir ein bloßes Aufhören gewesen zu sein. Seit der Flughafen Tempelhof den Betrieb eingestellt hatte, lag es nicht mehr in der Anflugschneise.
Löst man sich von der Fixierung aufs Außergewöhnliche und schaut stattdessen auf die Rituale des Alltags, erkennt man rasch einige Vorzüge Friedenaus. Fast jedes Haus verfügt über einen Vorgarten, viele davon haben Wohnzimmergröße und sind eingezäunt. Mehr noch als Balkone bieten Vorgärten einen halböffentlichen Raum. Sie werden privat gestaltet und von allen gesehen, sie verbessern das Mikroklima, locken Vögel und anderes Getier an. Aus den gut zweihundert Jahren Diskussion über Planung und Gestalt großer Städte lässt sich auf jeden Fall lernen, dass Städtebewohner mit Vielfalt und Abstufung der Formen besser zurechtkommen als mit Monotonie, so beeindruckend und durchdacht sie auf den ersten Blick auch scheinen mag. Die Vorgärten sind Rückzugsraum und Bühne zugleich, als Bereich zwischen Wohnung und Straße, Haus und Stadt beleben sie das Private wie das Öffentliche.
Eine populäre These besagt, dass ein zerbrochenes Fenster, wenn es nicht rasch instandgesetzt wird, die gesamte Nachbarschaft gefährdet, am Anfang einer Abwärtsspirale stehen kann. Dieser „Broken-Windows-Theorie“ liegt wohl ein ziemlich düsteres Bild vom Nachbarn zugrunde. Man könnte ihr die Friedenauer Vorgarten-Hypothese entgegensetzen: Wenn ein Vorgarten liebevoll bepflanzt und gepflegt wird, verstehen die Nachbarn dies als Aufforderung zum Wettbewerb. Erst ziehen sie nach, dann versuchen sie, es besser, schöner zu machen. Seit wir in Friedenau wohnen, wirken die Vorgärten in jedem Frühjahr prächtiger. Auch die Baumumrandungen werden inzwischen bepflanzt, regelmäßig gegossen. Und wo vor Jahren noch halb zertrampeltes Gras wucherte, blühen heute Rosen, Sträucher. Bürger*innen-Initiativen kümmern sich um die Neugestaltung von Plätzen und Parks. Man kann hier an vielen Orten im Freien sitzen, sich in heiterer Umgebung ungezwungen treffen, ohne etwas zu konsumieren. Wo es an solchen Möglichkeiten fehlt, verkommt urbanes Leben schneller als aufgrund zerbrochener Fenster.
Der Ortsteil hat eine kurze Geschichte, wurde Ende des 19. Jahrhunderts von verdienstvollen Spekulanten geplant: zunächst mit Landhäusern, bald schon mit den Berlin-typischen Wohnhäusern. Straßen und Plätze folgen der Carstenn-Figur, die viele Variationen über ein Muster ermöglicht. Zum Glück hat diese Figur, die Aufteilung in Alleen, geometrische Schmuckplätze, kleine Straßen, selbst die wahnwitzige Verwechslung von Städtebau mit Straßenbaupolitik in den Sechzigerjahren leidlich überstanden. Obwohl die Bundesallee verbreitert und untertunnelt wurde, obwohl an den Rändern Friedenaus Autobahnabschnitte hingewuchtet wurden, ist das Grundmuster noch zu erkennen. Die Gebäude aus verschiedensten Zeiten fügen sich in 98 von 100 Fällen gut ein, dennoch ist jede Straße anders. Dass viele davon architekturhistorisch interessant sind und ebenso viele Gedenktafeln an berühmte einstige Bewohner tragen, macht die Spaziergänge, die mitten in der Pandemie als Höhepunkte des sozialen Lebens fungieren müssen, unterhaltsam. Auf engem Raum lässt sich immer wieder etwas entdecken; es gibt irre viele interessante Details.
Die Frage, wie hip oder cool es denn sei, in Friedenau zu wohnen, löst bei mir nur noch Schulterzucken aus. Ab und an wundere ich mich, dass viele derer, die sich über Gentrifizierung und Verdrängung empören, weiterhin so eifrig das Bewertungsspiel betreiben und reden, als sei ein Kiez eine Marke, die sich auf einem urbanen Markt behaupten müsse und mit der man sein Ich aufwerten könne.
Friedenaus Gelassenheit gegenüber diesem Markt kultureller Symbole und Moden überzeugt mich von Jahr zu Jahr mehr. Man kann hier seinen Alltag bequem organisieren, seine Rituale verfeinern, ohne ständig beobachtet, hoch- oder runtergeschrieben zu werden. Urbanität im Windschatten würde ich das nennen. Sie lebt von Mäßigung, Anpassung, vermeidet Extreme. Wer das „spießig“ nennen will, soll es tun. Jedenfalls leben in keinem anderen Berliner Ortsteil mehr Menschen auf dem Quadratkilometer, und das so ruhig wie friedlich.
Wie lange es so weitergehen kann, ist schwer zu sagen. Auch hier werden inzwischen aberwitzig hohe Mieten und Wohnungspreise aufgerufen. Wer einen guten, alten Mietvertrag oder eine der günstigen Wohnungen in Seitenflügeln, Hinterhäusern hat, denkt nicht daran, fortzuziehen. Kleine Gewerbetreibende können die hohen Kosten nur schwer aufbringen. Nach einem Jahr Pandemie werden die Folgen der Schließungen sichtbar. Die ersten Restaurants und Läden haben aufgegeben. Ob wenigstens die Eckkneipen überleben, in denen man sich fühlt wie in den Siebzigern? Im Norden, wo einst der Güterbahnhof Wilmersdorf lag, entstehen etwa 1500 Wohnungen. Man kann die Großstruktur schon sehen, belanglose Architektur, der die hier typische Kleinteiligkeit und der Detailreichtum fehlen. Es werden viele neue Nachbarn kommen, vielleicht sogar welche aus Friedrichshain. Und wenn dann endlich die Test- und Quarantäne-Zeit vorüber ist, werde ich in die Stadt fahren, Abenteuer erwarten.
Weitergehen
Friedenau
Seine Wohnadressen wechseln vom bürgerlichen Charlottenburg über Zwischenstopps in Schöneberg und Friedenau zu einer Kommune, die in einem besetzten Haus beim Potsdamer Platz angesiedelt ist…
Tourist
Berlin had not yet become a major tourist destination, most of us lived without the Internet (not to speak of AirBnB)…
Vergangenheit
Zur jüngeren Vergangenheit gehört die Herrschaft einer „Fremdmacht“ (6), gefolgt von einer religiös-fundamentalistischen Revolution.
Bruder
Er verknotet zwei Hasenohren. Sein Bruder hat es ihm gezeigt, vor 50 Jahren. „Du machst zwei Hasenohren und verknotest sie“ hatte der gesagt.
Mitte
Meine Mitschüler wohnten an entgegengesetzten Enden der Stadt, die einen im mondän verfallenen Altbau in Mitte, die anderen im Plattenbau in Marzahn und wieder andere wohnten im Eigenheim am Stadtrand.
Friedrichshain
Hunde werden in Körbchen durch die Stadt gefahren, sie besuchen italienische Restaurants in Friedrichshain, haben die Reste der Berliner Mauer gesehen.
Hausverwaltung
„Ich habe viele Bewerber“, sagte Frank Korsson, „die Hausverwaltung will eine Auswahl haben. Du bist der Vierte jetzt.
Mitbewohner
Neuen, westsozialisierten Mitbewohner*innen bringen wir es seither geduldig bei. Allerdings bemerke ich eine zunehmende Müdigkeit, diese Vermittlungsarbeit zu leisten.
Marzahn
Meine Mitschüler wohnten an entgegengesetzten Enden der Stadt, die einen im mondän verfallenen Altbau in Mitte, die anderen im Plattenbau in Marzahn und wieder andere wohnten im Eigenheim am Stadtrand.
Achtzigerjahre
Gab es noch in den Achtzigern Repressalien gegen Schüler mit Westverwandtschaft? Von meiner Schule konnte ich mich an sowas nicht erinnern.
Fernsehturm
Einen gewissen Sonderstatus nimmt zudem ein Besuch des Telecafés im Berliner Fernsehturm ein, wo der Protagonist und seine afrodeutsche Freundin ein Dinner bei Sonnenuntergang erleben, dessen Romantik durch ironische Beschreibungen gebrochen wird…
Balkon
Da ist die Paartherapeutin im ehemaligen Schmuckladen, der bis 2017 ein anarchistischer Infoladen war; als er geräumt wurde, stand ich auf dem Balkon und habe zugesehen.
Bühne
Im September 2020 war ich mit meinem Sohn, der nur vage Erinnerungen an die Ereignisse von damals hat, in Greifswald, weil das Theater Vorpommern Angst auf die Bühne gebracht hatte.
Pandemie
…gemeinsam mit ein paar Bekannten habe ich damals versucht, schreibend Möglichkeiten der kritischen Begleitung von sich verändernden sozialen Gewohnheiten zu finden, die durch die Pandemie hervorgetreten sind.
Gentrifizierung
Die als Hausmeister tätige Robbe hat ein Kind namens Wientje, eine Anspielung auf die in Berlin omnipräsenten Pritschenwagen der Firma Robben & Wientjes (und mit ihr ‚über Bande‘ eine Anspielung auf Umzüge und Gentrifizierung).
Seitenflügel
Eines Tages brachte er K. die gute Nachricht, dass in einer etwas größeren, sicher wärmeren Wohnung im Seitenflügel wer ausgezogen sei.
Eckkneipen
Dazu zählen nicht nur wohnungslose, suchtkranke oder geflüchtete Menschen, sondern auch tradierte niedrigschwellige Orte der vielfältigen Zusammenkunft wie Eckkneipen und andere Nachtlokale, Sitzbänke, Spätis und kleine Geschäfte…
Urbanität
Heute leben in vielen Innenstadtbezirken nicht nur sozioökonomisch, sondern auch demographisch und kulturell sehr unterschiedliche Menschen und Milieus nebeneinander, was eine wunderbare Bereicherung darstellt und charakteristisch ist für Urbanität (definiert als Dichte, Größe und Heterogenität).
soziale Kontrolle
Auf die verfließenden Grenzen zwischen Nachbarn und Denunzianten sowie auf das Hervortreten einer anderen Form sozialer Kontrolle hinter der Institution des Gerichts wies die lakonische Prosa Tergits schon in den 1920er Jahren hin.
Dachgeschoss
Der Durchgang zu dem Hinterhaus und der Wohnung im Dachgeschoss – schmaler Flur, Küche, Innentoilette, ein Zimmer – lag zur Bornholmer Straße.
Gerüst
Im arabischen Viertel wurde ein Gerüst aufgestellt.
Club
Clubs I’m interested in might exist across town or, before corona came along, across continents.
Gras
Da möchte man lesen […] aber man kann nicht, man muß Gras schieben, und wenn man zum Bahnhof geht, kommt sicher ein Nachbar, der einen ermahnt: ‚Gar kein Gemüse? Aber das geht doch nicht. Und sie müssen auch düngen.‘
das Private
Auf zwei Aspekte kann man am Ende dieses kurzen Spaziergangs durch Gabriele Tergits journalistische und literarische Nachbarschaften verweisen, auf einen öffentlichen und einen privaten.
Mietvertrag
Park
Irgendwo im Park gibt es eine FKK-Wiese (wo Menschen nackt oder fast nackt sind).
Dunkelheit
Who in that primordial darkness would have feared the gentle two-by-four?
Nähe
Der Nachbar ist nicht nur derjenige, der in der Nähe wohnt, sondern auch derjenige, der nebenan klatscht.
Vorgarten
die markantesten Abweichungen rührten aber zweifellos von der Bepflanzung im Vorgarten, besonders die Beete links neben dem Pfad zur Haustür und entlang der Hausfront wiesen mitunter gravierende Differenzen auf.
Gedenktafel
Dachte ich dennoch daran, konnte mich nichts dazu motivieren, die Gedenktafel in der Methfesselstraße aufzusuchen, deren Foto ich im Internet und auf Google Streetview mehrfach aufgerufen hatte.
Der Schlechte Nachbar sieht nur, was ins Haus hineingeht, aber nicht, was herauskommt.
Wander, Deutsches Sprichwörter-Lexikon, 1873
Über das Projekt
Die Anthologie NACHBARSCHAFTEN, herausgegeben von Christina Ernst und Hanna Hamel, ist eine Publikation des Interdisziplinären Forschungsverbunds (IFV) „Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur“ am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Seit 2019 erforscht das Projekt das Phänomen der Nachbarschaft in der Gegenwartsliteratur und bezieht dazu Überlegungen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen mit ein. In der im November 2020 online gestellten Anthologie können Leser*innen durch aktuelle Positionen und Perspektiven aus Literatur und Theorie flanieren, ihre Berührungspunkte und Weggabelungen erkunden und sich in den Nachbarschaften Berlins zwischen den Texten bewegen.