Obwohl Herr Tiberius dreimal gestorben ist, werde ich ihn nicht los. Er war mein Nachbar, jetzt ist er mein Begleiter. Er wohnte unter mir, jetzt lebt er in mir. Er war mein Feind, inzwischen kommen wir leidlich miteinander aus.

Im Jahr 2002 kaufte ich mit meiner damaligen Frau eine Wohnung im Erdgeschoss einer Villa in Lichterfelde West. Wir hatten zwei kleine Kinder, wir wollten einen Garten haben. Vor dem Kauf trafen wir die anderen Bewohner des Hauses, außer dem Mieter im Souterrain.

Hör auf, sagt Herr Tiberius. Willst du das wirklich noch einmal erzählen? Du hast es doch schon tausendmal erzählt.

Lass mich, sage ich.

Wir zogen ein, lernten ihn dann kennen, Herrn T., und fanden ihn seltsam. Aber er war auch nett, wurde immer netter, bis er ein Stalker war, verliebt in meine damalige Frau und zu allem entschlossen. Es folgten sieben Monate in der Hölle. Er war unser Nachbar, und das ist immer ein kompliziertes Verhältnis, weil die Nachbarn von allen Fremden die uns nächsten sind. Wir müssen mit ihren Eigenarten ungewollt leben, die Eigenart von Herrn T. war, dass er uns terrorisierte.

Ja, ja, sagt Herr Tiberius, der hier neben mir am Schreibtisch sitzt.

Erst konnte der Rechtsstaat uns nicht helfen, weil die übliche Sanktion gegen Stalker so aussieht: Man schreibt ihnen vor, dass sie Abstand halten müssen. Aber bei einem Nachbarn geht das nicht. Herr T. wohnte in diesem Haus, wir wohnten in diesem Haus. Er hörte jeden unserer Schritte, wir hörten, wenn er die Toilette abzog.

Schließlich gelang es uns doch, ihn aus dem Haus zu bugsieren. Er war dann irgendwie in der Obhut des Staates, man sagte uns nicht, in welcher Weise. Nach einem Jahr traf ein Brief ein, in dem er sich entschuldigte. Nach zwei Jahren wurde uns von Nachbarn berichtet, Herr T. sei an einem Herzinfarkt gestorben. Das war sein erster Tod.

Nach einiger Zeit zog ein anderer Mann ins Souterrain ein. Ich muss gestehen, dass ich beinahe einen Panikanfall bekam, als ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Herr T. war klein und rund gewesen, und auf den neuen Nachbarn traf das Gleiche zu. Ein Wiedergänger? Auch der Neue war nett, übertrieb das aber nicht, und nachdem wir die üblichen Anpassungen vorgenommen hatten – er schaute seine Videos bei geringerer Lautstärke, wir stolzierten nicht mit Ledersohlen über das Parkett –, waren wir gute Nachbarn. Bis er dann einem Herzinfarkt erlag, ebenfalls in mittleren, beinahe jungen Jahren. Vielleicht ist es nicht ratsam, mein Nachbar zu werden.

Mit den Jahren wurde Herr T. zu einer Familienepisode. Wir waren gut aus der Sache rausgekommen, niemand von uns trug einen Schaden davon. Doch 2010 holte ich ihn in mein Leben zurück. Auf der Suche nach einem Stoff für einen Roman fiel mir ein, dass es einen solchen in meinem Leben gab: der Nachbar als Feind. Aus Herrn T. wurde Herr Tiberius, der gleich zu Beginn des Romans erschossen wird. Sein zweiter Tod.

Pff.

Am Ende des Romans wird er noch einmal erschossen, diesmal ein bisschen anders. Ich muss gestehen, dass ich dabei Phantasien verarbeitet habe, die mir in der Zeit mit Herrn T. tatsächlich gekommen waren, in meinem Zorn, in meiner Hilflosigkeit. Der Nachbar als Feind ist der schlimmste Feind überhaupt, weil er einem so unausweichlich nahe ist. 2012 erschien dieses Buch unter dem Titel Angst. Seither lebe ich wieder mit Herrn T., besser gesagt mit Herrn Tiberius. Bei aller Ähnlichkeit sind sie nicht identisch. So wie der Randolph Tiefenthaler aus dem Buch nicht ich bin, auch wenn man uns verwechseln könnte, wenn man nicht genau hinschaut.

Es kamen Interviews, es kamen Lesungen, und selten wurde, zu meinem Verdruss, über das Buch als Roman geredet, sondern fast immer über die „wahre Geschichte“.

Du hättest das ja nicht öffentlich machen müssen.

Das ist meine Sache, sage ich, etwas schnippisch.

Herr Tiberius und ich kennen uns inzwischen gut, in den letzten Jahren waren wir häufig gemeinsam unterwegs, da das Buch in viele Sprachen übersetzt wurde. Unsere weiteste Reise führte uns nach Australien, wo wir zwei Wochen miteinander verbrachten, Lesungen, Interviews, überall das gleiche Entsetzen. Probleme mit den Nachbarn kennt man in jedem Flecken der Erde.

Nach diesen Terminen war Herr Tiberius immer ein bisschen verstimmt. Es behagt ihm nicht, der bad guy zu sein.

So war es halt, sagte ich dann.

So war es in deinen Augen, entgegnete er. Manchmal wirft er mir vor, sein Schicksal ausgenutzt, davon profitiert zu haben. Herr T. und Herr Tiberius sind in einem Heim aufgewachsen, sollen dort sexuell missbraucht worden sein. Als sie im Souterrain in Lichterfelde West lebten, waren sie dauerhaft arbeitslos.

In der Nachbarschaftssoziologie ist der vertikale Teil der spannendere. Horizontal sind die Lebensverhältnisse meistens ähnlich. Das Souterrain sorgt hingegen für eine manchmal brisante Mischung. Weil es so düster und beengt ist, sind die Mieten dort selbst in herrschaftlichen Häusern relativ niedrig, weshalb sich in diesen Häusern soziale Schichten begegnen, die sonst nicht zusammenkommen.

Als wir in Sydney waren, machten Herr Tiberius und ich häufig Ausflüge mit dem Schiff durch Sydney Harbour, das kein Hafen ist, sondern eine Landschaft, eine wunderschöne Landschaft mit vielen Buchten und Stränden. In einer dieser Buchten standen die Villen direkt am Strand, und als wir dort entlanggingen, sagte Herr Tiberius mit Blick auf ein Haus, das zum Verkauf stand: Es ist so wunderschön, lass uns hierbleiben, lass uns dieses Haus kaufen.

Das kann ich mir nicht leisten, sagte ich mit der Genugtuung des Privilegierten, der an die Grenzen seiner Privilegiertheit stößt und das mitteilen kann.

Herr Tiberius sagte, dass er eine Erbschaft gemacht habe, dass er den größten Teil des Kaufpreises übernehmen könne. Jetzt war ich interessiert. Ich hatte keine Angst mehr vor ihm, wir hatten uns ausgesprochen, und für den Notfall trug ich immer meine Pistole bei mir. Mein Vater hat mir Schießen beigebracht, als ich ein Kind war.

Selbstverständlich, sagte Herr Tiberius, werde ich dann oben wohnen und aufs Meer schauen, und du wohnst im Souterrain.

Wenn du meinst, dass ich deshalb ein Stalker werden würde, sagte ich, hast du dich getäuscht, die meisten Menschen, die im Souterrain leben, werden keine Stalker.

Mag sein, sagte er, aber im Souterrain erlebst du am eigenen Leib, dass es in dieser Gesellschaft ein Unten und ein Oben gibt. Der Dramatiker Werner Schwab habe erzählt, dass er, in einem Souterrain aufgewachsen, immer nur die Beine der Passanten gesehen habe, wenn er alleine zu Hause auf seine Mutter wartete, nie die Gesichter. Auch Schwab ist früh gestorben.

Schweigend gingen wir den Strand entlang. Am Kauf des Hauses war ich nicht mehr interessiert. Abends gingen wir in das kühne, überwältigend schöne Opernhaus von Sydney und hörten das 2. Klavierkonzert von Rachmaninow.

Als wir ein halbes Jahr später in Italien waren, habe ich versucht, Herrn Tiberius loszuwerden. Eine Lesung in Trani in Apulien, wieder das Entsetzen im Publikum, die Fragen, die ich schon hundertmal gehört und beantwortet hatte. Herr Tiberius saß in der ersten Reihe und plötzlich hob er seine Hand und stellte, nachdem ihm die Moderatorin das Wort erteilt hatte, in tadellosem Italienisch diese Frage: Genießen Sie es eigentlich, sich als Opfer darzustellen?

Ich habe danach nie mehr eine Lesung mit Angst gemacht. In der Nacht packte ich meine Koffer, schlich mich aus dem Hotel und fuhr mit meinem Mietauto quer über den Stiefel von der adriatischen an die tyrrhenische Küste, suchte mir in Positano ein Hotel, das von einer hohen Mauer umgeben war und begann mit der Arbeit an einem neuen Roman. Herr Tiberius hat mich nicht gefunden.

Eine Weile hatte ich Ruhe, bis das ZDF die Verfilmung von Angst ausstrahlte und Herr Tiberius in mein Leben zurückkehrte. Manchmal sieht er jetzt aus wie der Schauspieler Udo Samel, der ihn auf grässlich-schöne Weise verkörpert hat. Gestern Abend zum Beispiel schaute ich mir auf DVD Die Klavierspielerin von Michael Haneke an. Samel hat eine Nebenrolle, und ich erschrak, weil ich dachte, Herr Tiberius habe einen Platz in der Wiener Society gefunden, um dort sein Unwesen zu treiben. Aber dann ging es um andere Dinge, um weit Übleres als das, was uns damals passiert ist. Das war in Wahrheit nicht viel, das meiste spielte sich in unseren Köpfen ab. Dass Herr Tiberius alias Udo Samel mir in dem Film zugewinkt hat, steht allerdings außer Frage. Manchmal ist das alles etwas verwirrend.

Mein Verhältnis zu Nachbarn ist deutlich geprägt von den damaligen Ereignissen. Ich will nicht sagen, dass ich traumatisiert bin, skeptisch allerdings schon. Kürzlich wurde die Wohnung neben unserer frei. Ich lebe jetzt in Kreuzberg direkt unter dem Dach. Der Abstand zum Souterrain könnte größer nicht sein, und ohnehin ist es nicht bewohnt. Ich habe ein paar Freunde angerufen und gefragt, ob sie neben uns einziehen würden, aber niemand wollte. Ich wartete also auf einen kleinen, runden Mann, der bald sterben würde, und die Frage war nur, ob er vorher nett oder ungeheuer nett zu uns sein würde. Aber dann kam ein mittelgroßer, schlanker Mann, mit Frau. Beide machen viel Sport. Wir nehmen gegenseitig unsere Pakete entgegen, sind nett zueinander, aber nicht zu nett. Nach ein paar Worten schließt jeder seine Tür.

Herr Tiberius kommt mich manchmal in Kreuzberg besuchen, nicht oft allerdings. Wenn ich aber, wie jetzt, einen Text über ihn schreibe, ist er bald da und führt sich auf wie zu Hause. Er mag den Black Print, den Rotwein, der auch im Roman vorkommt.

Im September 2020 war ich mit meinem Sohn, der nur vage Erinnerungen an die Ereignisse von damals hat, in Greifswald, weil das Theater Vorpommern Angst auf die Bühne gebracht hatte. Das war zuvor schon dem Theater in Oberhausen eingefallen; es gibt ein deutsches Hörspiel und ein Hörspiel der BBC, zudem den Film vom ZDF. Weitere Filmprojekte sind in Frankreich und Großbritannien in Planung. Ich entkomme Herrn Tiberius nicht, und er kann trotz seiner drei Tode nicht sterben.

Vor der Vorstellung in Greifswald bekam jeder Zuschauer eine Pistole aus Plastik in die Hand gedrückt. Dann saß ich dort, mit der Pistole, und sah diese Nachbarschaftsgeschichte, die ich als ziemlich bedrückend empfand. Es war zu meinem wachsenden Unbehagen ein Ein-Personen-Stück, Herr Tiberius und Randolph Tiefenthaler wurden vom selben Schauspieler dargestellt. Wir sind ineinander aufgegangen. Er ist der Nachbar in mir.

Weitergehen

Erdgeschoss

So finden die Verfolger beim Durchwühlen von Spaiks Haus im unbewohnten Erdgeschoss eine „mumifizierte Leiche“…

Hölle

And the Kiez, it seems to me, can be an especially hellish subcategory of the last item on that list.

Garten

…getting their children into good schools, spending a fortune relandscaping their quaint gardens, patronising the golf club and supporting the Queen.

arbeitslos

In der Schweiz beantworte ich geduldig immer wieder die Fragen, ob meine Eltern arbeitslos seien, mit nein, und ob ich tatsächlich nackt baden würde, mit ja.

Kreuzberg

in berlin wollense wissen, in welchem kiez du lebst. kreuzberg ist eine gute antwort.

Hotel

It runs above-ground in this entire section, a fact that can easily be overlooked, however, because the tracks are overbuilt with hotel and office space.

Schritte

Ich höre Schritte über mir. Schritte, Schritte – immer wieder Schritte über mir, all die Jahre.

Erbschaft

Wir sind Anfang 20 und haben alle kaum Vermögen, aber einige fürchten um den Wert ihrer künftigen Erbschaft und der Sparkonten, die ihre Eltern für sie angelegt haben.

Schicksal

…zwei aus Ostdeutschland stammende, afrodeutsche Schwestern, deren schwieriges Schicksal als Ausgangspunkt für einen Exkurs über Afrodeutsche dient.

Staat

Vielfalt als Bereicherung – und nicht als Bedrohung – anzusehen, wird aber vom Staat propagiert…

Mutter

Da ist der Unfall, das Verbrechen, die Gartenfeier, seine Mutter, das Geschenk, ein Urlaub, ein Rätsel.

Mieten

Aufgrund steigender Mieten fallen zugleich immer mehr Menschen aus regulären Wohnverhältnissen heraus…

Abstand

Er hat sie in einer kleinen Zahl in großem Abstand zueinander auf dem Tuch angeordnet.

Grenzen

Auf die verfließenden Grenzen zwischen Nachbarn und Denunzianten sowie auf das Hervortreten einer anderen Form sozialer Kontrolle hinter der Institution des Gerichts wies die lakonische Prosa Tergits schon in den 1920er Jahren hin.

Paket

Dana, habe dein Paket!

Passanten

Dort, wo normalerweise eine Mischung aus Nachrichtenticker und Werbeprogramm die Blicke der Passanten auf sich zieht, leuchtete das Gedicht in einer 20 Sekunden dauernden und als Loop programmierten Animation…

Stalker

Aber auch an die Zeit, in der die Fenster unserer Parterre-Wohnungs nachts geschlossen blieben, wegen eines Stalkers.

Bühne

Die Vorgärten sind Rückzugsraum und Bühne zugleich, als Bereich zwischen Wohnung und Straße, Haus und Stadt beleben sie das Private wie das Öffentliche.

Erinnerung

So macht man das doch mit der Erinnerung, oder? Man versucht diese flüchtigen Momente, die als Blitze im Gedächtnis auftauchen, irgendwie einzuordnen.

Schreibtisch

Ein Frühlingsmorgen im neuen Büro im Kiezquartier. Sie sieht vom Schreibtisch aus dem Fenster…

Pistole

Herrndorfs Entscheidung, sein Leben mit einer Pistole frühzeitig zu beenden, hat sein Schriftstellerkollege Rainald Goetz in dem ein Jahr nach Herrndorfs Tod erschienenen Aufsatz „Spekulativer Realismus“ heftig verurteilt…

Schiff

Wenn ich mich neben das Kreuz ans Ufer setze, habe ich einen schönen Überblick über die wenigen Schiffe, die hier zwischen Spandau und Mitte verkehren.

Koffer

Ich packe schon meinen Koffer ein…

Herzinfarkt

Er hatte im Winter einen Herzinfarkt. Die ganze Gemeinde hat gebetet und geweint.

privilegiert

Gleichzeitig zeigten sich erhebliche Divergenzen: Meine empfindsame Migration war tausendmal privilegierter als die existenzielle Migration der beiden.

Wenn dein Nachbar von Honig ist, so friss ihn nicht ganz auf.

Wander, Deutsches Sprichwörter-Lexikon, 1873

Über das Projekt

Die Anthologie NACHBARSCHAFTEN, herausgegeben von Christina Ernst und Hanna Hamel, ist eine Publikation des Interdisziplinären Forschungsverbunds (IFV) „Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur“ am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Seit 2019 erforscht das Projekt das Phänomen der Nachbarschaft in der Gegenwartsliteratur und bezieht dazu Überlegungen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen mit ein. In der im November 2020 online gestellten Anthologie können Leser*innen durch aktuelle Positionen und Perspektiven aus Literatur und Theorie flanieren, ihre Berührungspunkte und Weggabelungen erkunden und sich in den Nachbarschaften Berlins zwischen den Texten bewegen.