Schritte. Ich höre Schritte über mir. Schritte, Schritte – immer wieder Schritte über mir, all die Jahre.
Die alte Frau, die in der oberen Etage gelebt und von der meine Zimmerwirtin Oma Schade behauptet hatte, sie hacke nachts in der Wohnung Holz, hatte wahrhaftig nachts auf den Dielen Holz gehackt. Und sie hatte uns nachts mehrmals den Klingeldraht durchgeschnitten. Einmal ertappte ich sie, wie sie im Nachthemd, das Messer in der Hand, vor unserer Wohnungstür stand. Die alte Frau starrte mich böse an, ehe sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufeilte. Danach sah ich sie nicht wieder. Hackte sie übrigens nicht in der Wohnung Holz und zerschnitt sie nicht unseren Klingeldraht, so drückte sie nachts gern die Wohnungsklingeln der Nachbarn. Die schwerhörige Oma Schade hörte es nicht. Doch andere Mieter ärgerten sich. Und dann war sie tot, die garstige Alte, und ihre Wohnung ging in rascher Folge an mehrere junge Paare über – das war bereits nach Oma Schades Tod, als ich ihre Wohnung übernommen hatte.
Wenn ein Paar eingezogen war, dauerte es nicht lange und die Frau war schwanger. War sie abermals schwanger, so zog das Paar wieder aus, zog es in eine größere Wohnung, denn Zweiraumwohnungen regten zwar den Wunsch nach Vermehrung an, zur Kinderaufzucht schienen sie jedoch ungeeignet zu sein. Und so hörte ich über die Jahre nachts oft Säuglingsgeschrei durch die Decke. Zuvor hatte sich ein Bett über die Dielen bewegt, hatte ich gedacht: Gleich stürzen sie mit dem Bett eine Etage tiefer. Derart wild treiben sie’s!
Die Paare mieteten die obere Wohnung, und sie zogen fort. Ein Paar blieb dann aber wohnen. Der Mann war sportlich und trug einen schwarzen Seemannsbart. Er fuhr Fahrrad und hobelte und zimmerte im Keller und in der Wohnung. Nach kurzer Zeit gehörte er zum harten Kern der Hausgemeinschaft. Seine Frau – sofern sie nicht im Schwangerschaftsurlaub oder im Mütterjahr war – arbeitete im Büro.
Der Mann sprach mich auf der Flurtreppe an. Er klagte, sein Keller sei ungerecht klein, und fragte, ob er in meinem größeren Keller, den ich kaum nutzte, vorübergehend ein paar Handwerksgeräte abstellen könnte. Wie immer, wenn mich eine Bitte überrascht, ließ ich mich auf sie ein. Bald sah ich, der Übermieter breitete sein Handwerksgerät im Keller mehr und mehr aus. Auch lagerte er in ihm Baumaterialien. Im Herbst mußte ich ihn bitten, im Keller etwas Platz für eine bestellte Kohlen- und Holzlieferung zu schaffen. Der Übermieter erfüllte meine Bitte nur ungern. Also kündigte ich ihm bei der nächsten Begegnung auf der Flurtreppe die Mitbenutzung des Kellers auf. Der Mann mit dem schwarzen Seemannsbart grüßte mich fortan nicht mehr, wenn wir uns im Haus begegneten.
Als die Kinder aus dem Gröbsten heraus waren, zogen auch diese Übermieter in eine größere Wohnung, konnten sie sich, wie mein Nachbar Herr Rudolph sagte, wohnungsmäßig verbessern. Die Hausgemeinschaft verlor ein rühriges Mitglied. Ich aber war froh: Die Kinder der Übermieter würden nicht mehr um die Wette über den langen Wohnungsflur rennen.
Zur Wendezeit lebte ein freundliches Paar in der Wohnung. Es bekam ebenfalls ein Kind. Und es ließ Wasser durch die Decke laufen. Freundlich, wie das Paar war, meldete es den Vorfall seiner Versicherung. Die zahlte für den Wasserschaden in meinem Bad und im hinteren Zimmer. Zwei Tage vor der Währungsumstellung erhielt ich hundertdreißig DDR-Mark.
Die nächsten Mieter ließen nicht Wasser durch die Decke laufen; doch hatten sie zwei Kinder und einen Hund. Nun rannten die Kinder und der Hund um die Wette über den langen Wohnungsflur. Ich bat mehrmals um Rücksicht. Der Mann, der eine Ringerstatur hatte und schielte, hörte sich meine Bitte mißgelaunt an. Er versprach nichts, und es änderte sich nichts. Doch. Man schlug sich abends in der oberen Wohnung. Es war die Zeit, als ich mit Markus Ries befreundet war. Ich sehe uns im vorderen Zimmer auf dem Sofa sitzen. Den Blick zur Decke gerichtet, verfolgen wir die Geräusche in der oberen Etage. – Wir lauschten einem bedrohlichen Hörspiel: Er schlug auf sie ein, sie schrie, die Kinder weinten, der Hund jaulte, etwas stürzte zu Boden: Schränke aus Eisen – so klang es – fielen um. Die Frau rannte irgendwann jammernd die Flurtreppe hinab. Stunden später kratzte sie an der Wohnungstür, bat sie, eingelassen zu werden. Tief in der Nacht versöhnte sich das Paar im Treppenhaus. Und hätte die Frau anderntags im Supermarkt nicht ein blaues Auge entstellt, so hätte ich vermuten müssen, aller Skandal sei einzig meiner und Markus’ Phantasie entsprungen. Liebevoll fragte er sie zwischen den Supermarktregalen, was ihnen noch fehle.
Da sind Drogen im Spiel, sagte der Westler Markus, als man sich in der oberen Etage erneut schlug, als er brüllte, sie schrie, der Hund winselte und die Kinder barmten.
In einer Winternacht wurde oben über den Flur gerannt, wurden Fenster aufgerissen und Türen. Wieder bat ich um Rücksicht.
Wir haben hier grade eine kleine Schneeballschlacht gemacht, sagte der Mann, und er drohte: Sollte ich noch einmal um Rücksicht bitten, dann würde es für mich Prügel setzen.
Du hast recht, sagte ich zu Markus, es sind Drogen im Spiel.
Ums kurz zu machen, Herr Krist kündigte, sobald er das Haus Schreinerstraße 25 gekauft hatte, meinen Übermietern den Mietvertrag. Er wollte Wohnungen zusammenlegen lassen, und diese Mieter waren, anders als ich, der „Altmieter“, vor einer „betriebswirtschaftlichen Kündigung“ nicht geschützt.
Nachdem Krist die Zweiraum- und die benachbarte Einraumwohnung hatte zusammenlegen lassen und sie mit großem Bad, großer Küche und Parkettfußböden ausgestattet war, vermietete er sie an ein Paar mit Kind. Der Mann trug eine Brille und wirkte intellektuell schüchtern. Die Frau trug schwarze Schnürstiefel und kurzes Haar. Wild gefärbt war es anfangs. Das Kind saß noch im Kinderwagen. Oder der Mann trug es in einem Umhängetuch an der Brust vor sich her.
Kaum konnte das Kind – ein Mädchen – laufen, so stimmte es die Mutter auf Partnerlook ab: Die gleichen roten Kniestrümpfe, die gleichen geringelten Röcke, und beide trugen schwarze Schnürstiefel. Ich hörte Mutter und Tochter in Schnürstiefeln durch die obere Wohnung stampfen. Oder sie polterten die Flurtreppe hinab. Dann trug die Mutter eine Glatze, später eine Irokesenfrisur. Auch das Mädchen verwandelte sich zum Punk. Dann zog der Mann aus. Er war immer schweigsamer geworden und hatte, wenn wir uns im Treppenhaus begegneten, nur noch kopfnickend gegrüßt – sie hatte nie gegrüßt.
Das Paar hatte sich auseinandergelebt, und der Mann zog in die Nachbarschaft. Er wartete nun sonntagvormittags vor dem Haus auf seine Tochter. Oder er lief mit ihr die Schreinerstraße auf und ab.
Der Frau schien es gut zu gehen. Eine Freundin zog bei ihr ein. Und endlich verstand ich, was geschehen war: Die Frau hatte, während man über mir wohnte, ihre lesbische Neigung entdeckt. Oder sie hatte sich zu ihr bekannt.
Es war für mich ein guter Tag, als Frau, Tochter und Freundin aus dem Haus auszogen. Als ich wußte, ich werde auf dem Parkett nicht mehr die Schnürstiefel hören.
Ein noch besserer Tag war’s für mich, als ein alleinstehender Mann die Wohnung mietete. Ein stiller, verschlossener Mann um die Dreißig mit schulterlangem, kräftigem schwarzem Haar. Er war selten zu Haus, und wenn, dann wusch er Wäsche. Nur soviel hörte ich von ihm: die Waschmaschine im Bad und die Wäscheschleuder. Zu Johanna sagte ich:
So gut wie jetzt werde ich es nie wieder haben: daß nur ein einzelner Mann über mir wohnt. Mein Gott, hab ich’s gut!
Letztes Jahr ist der stille, verschlossene Mann ausgezogen. Zuvor ließ er sich das kräftige schwarze Haar kurzschneiden.
Der Mann zog aus und ich barmte:
Wer wird nun in die Wohnung ziehn? Werd ich Hunde oder Schnürstiefel hören, demnächst?
Wenn’s von oben auch so laut tönen sollte wie von unten aus dem Kinderladen, ziehe ich aus, sagte ich zu Johanna, und es klang, als spräche der weinerliche Herr Rudolph aus mir.
Ich mußte nicht ausziehen, denn die beiden jungen Frauen, die die Wohnung gemietet haben, höre ich kaum. Auch sie waschen oft Wäsche. Das aber bin ich gewohnt. Nach allem, was mir in den letzten Jahren an Lärm zu Ohren gekommen ist, ist es das reinste Glück. Selbst wenn mich am Sonntagmorgen die Waschmaschine aus der oberen Etage weckt, ist es Glück.
Zuweilen sehe ich im Kiez die Frau und ihre Tochter, die mit Vorliebe schwarze Schnürstiefel trugen. Jedesmal trägt sie eine andere Frisur. Und die Tochter liefert ihr Spiegelbild. Und immer fahren sie Fahrrad. Die Freundin ist nicht mehr an ihrer Seite. Vielleicht hat sie der Selbstverwirklichung der jungen Frau nicht standgehalten. So wie der Kindsvater ihrer Selbstverwirklichung nicht standhalten konnte. Überschrift: Eine unangepaßte Frau.
Ich begegne gelegentlich im Kiez noch einem anderen ehemaligen Mieter der oberen Wohnung. Auch er fährt Fahrrad. Doch oft nimmt er mich im Trunk nicht wahr. Tut er’s, so grüßt er zuvorkommend: Guten Tag, Herr Berner! … Wie geht’s, Herr Berner?!
Leutselig, wie es Alkoholiker gern sind, redet der Mann vor sich hin. – Das war der Mieter mit dem schwarzen Seemannsbart, der sich einst meinen Keller angeeignet hatte, eine Stütze der Hausgemeinschaft. Ich weiß, er ist geschieden. Seine Trunksucht hat die Ehe ruiniert. Wer hat es mir erzählt? Herr Rudolph? – Die Augen des Mannes sind alkoholgerötet, der Seemannsbart ist ergraut.
Der Mann muß achtgeben, daß er nicht betrunken vom Fahrrad fällt. Wenn er sich mir auf dem Bürgersteig nähert, weiche ich dem Fahrrad vorsichtshalber aus. Und schon höre ich: Guten Tag, Herr Berner! … Wie geht’s, Herr Berner?!
Schritte, Schritte über mir – all die Jahre.

Es handelt sich um einen bislang unveröffentlichten Text aus dem Manuskript von Zu einer anderen Zeit, in einem anderen Land.

Weitergehen

Etage

Seit ich wieder in meiner Wohnung bin, ist Mari wieder da. Ich rieche den Käfig und höre, wie Nike in der obersten Etage des Käfigs im Streu raschelt.

Keller

„Die Blase ist dann halt nicht mehr intakt“, sagte die Nachbarin und versuchte mich in ein Gespräch über den beißenden Uringeruch im Keller unseres Hauses zu verwickeln.

Kinder

Kinder, die nicht grüßen, die das Treppengeländer runterrutschen, die Basketball im Hof spielen und vor dem Hauseingang Skateboard fahren…

Supermarkt

…die Frau ruft begeistert: „Manfred, schau mal, wie früher!“ Währenddessen klappert ein westdeutsch sozialisierter Freund alle Supermärkte der Umgebung ab und schickt mir aus jedem einzelnen ein Foto der Leerstelle, an der sich die Hefe befinden sollte.

Kinderwagen

der wedding kommt, der prenzlberg hat ein kinderwagenproblem, in mitte sind die zu reichen

Waschmaschine

Rechts und links davon Spül- und Waschmaschine. Auf einer Anrichte Entsafter, Toaster und Espressomaschine.

Oma

…in welchem eine Ich-Erzählerin namens Lea Streisand sich die körperlich und psychisch anstrengende Prozedur einer Chemo- und Strahlentherapie durch die Arbeit an einem Roman über ihre Großmutter erleichtert…

Wohnungstür

Mari und Nike wurden zu Käfigwesen, die zu quieken anfingen, wenn sie nach einem langen Tag endlich meinen Schlüssel im Schloss der Wohnungstür hörten.

Wasserschaden

Eine hat einen Wasserschaden und deshalb regnet es bei einem in der Wohnung.

Bürgersteig

…das Holpern der Autoreifen auf dem Kopfsteinpflaster, die Gespräche der Menschen auf dem Bürgersteig, das Rattern der Hochbahn auf der Skalitzerstraße.

Drogen

…vor allem männlicher Teenager, die die Jahre nach 89/90 damit verbrachten, Drogen zu nehmen, Nazis zu verprügeln und zu Techno zu tanzen.

Blick

Auf den ersten Blick hat das nachbarschaftliche Gespräch wenig Bezug zur Vorliebe für Münzen…

Wendezeit

Sie sind beide (großteils) in West-Berlin kurz vor und unmittelbar nach dem Mauerfall angesiedelt und beziehen sich auf die außergewöhnlichen politischen Entwicklungen der Wendezeit…

Lärm

die zwei unter mir hassen laute musik und uns.

Kindsvater

Diese letzten urteilsfreien Meter bis zur endgültigen Beisetzung des Vaters, und die restlichen bis zu seiner Verwesung und vollkommenen Entfleischlichung und damit seiner Unantastbarkeit.

Mieter

…als sich die Ströme neuer Mieter einen Spalt weit auftun…

Ohren

…die unaufhörlich lauschenden Ohren der großstädtischen Nachbarschaft kontrollieren den Geschlechtsverkehr…

Kiez

Ours is an intensely kiezy Kiez, especially at the end of the street in which we live.

Jammern

Heute morgen hörte ich nur noch Maris kurzes Jammern, dafür öffnete sie ihr kleines Mäulchen ein letztes Mal.

Treppe

Eine klare Reaktion auf den „Klang”, den ihre Holzabsätze verräterisch auf den Treppen hinterließen.

Flur

Hektisch schoss ich einige Fotos und überlegte dabei, ob ich den Hitler in meinem Ärmel verschwinden lassen sollte, doch dann stellte ich ihn solo aufs Tablett und trug ihn durch den Flur ins Schlafzimmer.

Schritte

Er hörte jeden unserer Schritte, wir hörten, wenn er die Toilette abzog.

Mietvertrag

Die Bude in der Schliemannstraße hatte K. vorsorglich weiter gehalten. Da war er inzwischen legalisiert, besaß einen Mietvertrag.

lesbisch

Es raschelte im Laub. Doch die zahlreichen Lokale der schwulen und der lesbischen/feministischen Subkulturen waren alle im US-amerikanischen Sektor angesiedelt.

Gott

Sie sind so leicht zu erzürnen wie der Vater im Himmel, denkt Dorina und legt eine helle Tischdecke auf. Geb’s Gott, dass sie immer zu essen haben.

Kündigung

„Nächstes Jahr“, hat Max gesagt, „können wir verputzen.“
Das war im letzten Herbst. Vor seiner Kündigung. Wegen Eigenbedarf.

Fahrrad

Einmal verfolgte ich, wie eine Krähe auf dem Lenker eines Fahrrads landete und eine Erdnuss in den offenen Lenkergriff schob.

Ist ein Schusterladen Nachbar einer Confiserie, so werden seine Schnürsenkelgehänge lakritzenähnlich.

Walter Benjamin, Passagen, 1927

Über das Projekt

Die Anthologie NACHBARSCHAFTEN, herausgegeben von Christina Ernst und Hanna Hamel, ist eine Publikation des Interdisziplinären Forschungsverbunds (IFV) „Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur“ am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Seit 2019 erforscht das Projekt das Phänomen der Nachbarschaft in der Gegenwartsliteratur und bezieht dazu Überlegungen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen mit ein. In der im November 2020 online gestellten Anthologie können Leser*innen durch aktuelle Positionen und Perspektiven aus Literatur und Theorie flanieren, ihre Berührungspunkte und Weggabelungen erkunden und sich in den Nachbarschaften Berlins zwischen den Texten bewegen.