1. Plötzlich Repräsentantin
Dass ich ostdeutsch sozialisiert bin, bemerke ich erst, als ich meine Heimatstadt verlasse und plötzlich die Einzige bin. Ich lerne schnell, dass meine Herkunft erklärungsbedürftig und beladen von Vorannahmen ist, die es zu bestätigen oder zu revidieren gilt. In der Schweiz beantworte ich geduldig immer wieder die Fragen, ob meine Eltern arbeitslos seien, mit nein, und ob ich tatsächlich nackt baden würde, mit ja. In Frankreich zeichne ich ungefähre Deutschlandkarten auf Bierdeckel, um zu veranschaulichen, dass le mur de Berlin zwar Berlin teilte, die DDR aber auch noch eine Grenze zur übrigen BRD hatte. Später, im Berliner Gemeinschaftsbüro, drehen sich alle Köpfe erwartungsvoll zu mir, als die Frage auftaucht, was auf dem russischen Plakat an der Wand eigentlich draufsteht. Ich muss passen, ich bin 1987 geboren und hatte kein Russisch in der Schule. Überhaupt muss ich oft passen: Ich habe keine Ahnung, wie es sich hinter der Mauer lebte, welche Presse trotzdem gelesen wurde oder was in Westpaketen drin war. Aus Potsdam zu kommen ist für andere aber eine ausreichende Qualifikation zur Ost-Expertin. Wenn ich dann noch einen Namen wie Erich Mielke fallen lasse und sich mein Gegenüber umgeben von lexikalischer Kompetenz wähnt, kann ich unbemerkt meine vagen Vorstellungen von der Vergangenheit als Fakten auftischen. Meine Ahnungslosigkeit fällt nicht auf, weil mich eine noch größere Ahnungslosigkeit umgibt. So werde ich mit Anfang 20 zur Botschafterin eines nicht mehr existierenden Staates, in dem ich zwar geboren wurde, an den ich aber keine Erinnerungen habe. Heute frage ich mich, wieso ich diese mir zugeschriebene Rolle eigentlich angenommen habe. Ich hätte ja nur sagen müssen: „Sorry, Jahrgang 87“, und wäre raus gewesen aus der Sache. Stattdessen übernehme ich bereitwillig die ständige Vertretung im nichtsozialistischen Ausland, lese mir dafür fleißig DDR-Fakten an und schreibe einen ganzen verdammten Roman über die Frage, was von der DDR in der Nachgeborenengeneration übriggeblieben ist. Wieso eigentlich?
2. Beschämende Referenzen
Als Kind ist die „Hammer=Rehwü“ von Karls Enkel eine meiner Lieblingskassetten, darauf insbesondere das „Berlinlied“, dessen Text ich auswendig mitsingen kann, ohne viel davon zu verstehen. Ich bin acht Jahre alt und weiß nicht, was Abkürzungen wie VP und VEB bedeuten. Ich habe keine Ahnung, wieso der Fisch „viehisch nach Chemie“ stinkt. Und wenn er droht, in die Nordsee zu fliehen, ahne ich nichts von der möglichen Analogie zwischen Fisch und DDR-Bürger*innen. Ich halte es in erster Linie für ein Lied über einen Fisch, der nicht geangelt und in Gelee eingelegt werden will. Wenn ich es im Auto auf der Rückbank laut mitsinge, lacht meine Mutter ein Lachen, von dem ich nur so viel verstehe, dass sie nicht mit mir, sondern über mich und meine Ahnungslosigkeit lacht. Das könnte eine Anekdote aus der Kategorie „Lustige Kinderweltsicht“ sein. Aber die Wahrheit ist, dass ich auch heute, als Erwachsene, nicht wesentlich mehr von dem Lied verstehe als damals. Zwar ahne ich die doppelten Böden, ich kann sie aber nach wie vor nicht lückenlos aufschlüsseln. Wieso ist das Angeln an der Spree eine gefährliche Schnapsidee? Wofür steht die Abkürzung TTT? Was, meint der Fisch, täte „beim ersten Mal noch weh“? Mir fehlt schlicht der kulturelle Referenzrahmen. Dazu hat die kulturpolitische Zensur bei DDR-Bürger*innen Fähigkeiten im Sprechen und Lesen zwischen den Zeilen hervorgebracht, die ich mir nicht mehr aneignen musste. Der heimatliche Küchentisch gleicht einem Hinterzimmer, in dem in mir unverständlichen Verrätselungen verhandelt wird. Anderen gegenüber kann ich mir zur Not was ausdenken. Insbesondere zuhause aber bin ich ausgeschlossen aus einem geheimen Wissen vorheriger Generationen und schäme ich mich für meine Ahnungslosigkeit.
Zwanzig Jahre nach dem Singen auf dem Rücksitz bin ich mit dem Roman zu einer Lesung an der Uni Potsdam eingeladen. Der moderierende Dozent eröffnet das Gespräch mit der Frage, ob ich mit dem Sputnik angereist sei. Sputnik ist eine Vokabel, die ich zwar kenne, die mein Gehirn aber nicht gleich einem Gegenstand zuordnen kann. Ich verstehe also nicht, dass er einen Witz macht, und antworte verunsichert, dass ich mit der S‑Bahn gekommen bin. Mit seiner Frage setzt er einen gemeinsamen Bezugsrahmen voraus, der das Wissen beinhaltet, dass es sich beim Sputnik um den ersten künstlichen Erdsatelliten im All und einen Meilenstein der russischen Raumfahrt handelte. Meine Reaktion enttarnt meine Wissenslücke – und wieder (oder vielmehr: immer noch) schäme ich mich. Die Scham, etwas offenbar Selbstverständliches nicht zu wissen, ist der Motor meiner Recherchen. Ich googele, ich lese, ich notiere, um mich am Küchentisch einerseits und als Botschafterin andererseits nicht ständig zu blamieren.
3. Man wächst mit seinen Aufgaben
Als 2008 die Finanzkrise kommt, sind in meinem Freundeskreis manche besorgter als andere. Wir sind Anfang 20 und haben alle kaum Vermögen, aber einige fürchten um den Wert ihrer künftigen Erbschaft und der Sparkonten, die ihre Eltern für sie angelegt haben. Wie so oft verstehe ich die panikartige Aufregung nicht recht, die gesellschaftliche Veränderungen begleitet. Zum einen sind ostdeutsche Erbschaften durchschnittlich um ein Vielfaches kleiner als westdeutsche, sodass ich in diesem Fall schlicht weniger zu verlieren habe als meine westsozialisierten Freund*innen. Zum anderen bin ich mit der Metapher des Kapitalismus als Raubtier aufgewachsen, dessen ausbeuterischer bis mörderischer Charakter keiner wünschenswerten Gesellschaftsform entspricht. Ein Ereignis wie die Finanzkrise kann ich problemlos in diese Erzählung einordnen – es überrascht mich schlicht nicht so sehr. Die scheinbare Alternativlosigkeit des Kapitalismus ist ein westdeutsches Phänomen; ostdeutsch Sozialisierte betrachten ihn schon immer vor der Folie des Sozialismus. Gesellschaftsformen sind für mich so unumstößlich wie die Mauer, nämlich gar nicht. Sie sind Entscheidungen. Die Ostsozialisierung prägt also meinen Blick auf Politik und Gesellschaft und wird zum Deutungsmuster, das mir mich selbst erklärt – insbesondere dann, wenn sich ein Gefälle zu meinen westsozialisierten Freund*innen auftut. Eine Zeit lang lerne ich also durchaus etwas bei meinem Job als Botschafterin.
4. Verquickungen und Zuständigkeiten
Im Frühling 2020 bilden sich antivirale Schlangen vor den Läden. In Ost-Berlin steigt ein Ehepaar aus dem Auto, die Frau ruft begeistert: „Manfred, schau mal, wie früher!“ Währenddessen klappert ein westdeutsch sozialisierter Freund alle Supermärkte der Umgebung ab und schickt mir aus jedem einzelnen ein Foto der Leerstelle, an der sich die Hefe befinden sollte. Ich kenne weder das Schlangestehen noch den Warenmangel der DDR aus eigener Erfahrung. Beides wurde mir aber vom kollektiven Gedächtnis derart in die DNA getrichtert, dass ich beim Anblick der Bilder nur gelangweilt mit den Schultern zucke. Dann gibt es heute eben keinen selbstgebackenen Hefezopf. Eine gelernte Überzeugung hält mir die Panik vom Leib: Es bleibt auf dieser Welt eh nichts wie es ist.
Ich wurde hineingeboren in eine Zeit, in der sich für meine Elterngeneration alles, wirklich alles, veränderte und sich ihre räumlichen, ökonomischen, politischen und beruflichen Möglichkeiten krass erweiterten oder krass reduzierten. Veränderung ist für mich quasi der Urzustand der Welt, wie ich sie kennen gelernt habe, während meine westsozialisierten Freund*innen in einer politisch-ökonomischen Stabilität aufgewachsen sind, die von ausverkaufter Hefe plötzlich bedroht ist. In mir hingegen ist die Erfahrung, dass von heute auf morgen alles anders sein kann, so fest verankert, dass ich auf Veränderungen nicht mit Panik reagiere. Die Ostsozialisierung kann eine Krisenbeständigkeit bedeuten, eine Flexibilität, eine rasche Gewöhnung an radikale Veränderungen. Die Umgangssprache nennt das ein dickes Fell, die Psychologie Resilienz, die Gegner*innen Fatalismus – sucht euch was aus. Die Ostsozialisierung bedeutet allerdings auch, eine gewisse Identifikation über eine relative Schlechterstellung vorzunehmen, die auf der kollektiven ostdeutschen Erfahrung beruht, dass der Westen in den 90ern die wirtschaftliche und intellektuelle Oberhand im Osten bekommen hat. Auch ich gehe insgeheim davon aus, es als ostsozialisierte und dazu weibliche Autorin „nie so weit zu bringen“ wie meine westsozialisierten, männlichen Kollegen. Ich wünsche mir das nicht einmal, denn wer im Kapitalismus erfolgreich ist, steht unter dem Generalverdacht, mehr Raubtier als Mensch zu sein. Meine Höhenangst betrifft nicht nur Schluchten und Flugzeuge, sondern auch das obere Ende der Karriereleiter.
Mit der Hysterie der Gegenwart kann ich jedenfalls häufig nichts anfangen. Meinem hefesuchenden Freund antworte ich: „Lernen wir mit dem zu arbeiten, was da ist. Werden wir brauchen in der ressourcenschonenden Welt, auf die wir hoffen.“ Meine relative Gelassenheit gegenüber Umbrüchen ist aber kein Erbe des Sozialismus, sondern der Wende. Ich brauche absurd lange, um zu verstehen: Ich bin kein Kind der DDR; ich bin ein Kind des ostdeutschen Umbruchs in den 90er-Jahren. Weil der Osten als undifferenzierter Begriff aber die unterschiedlichen historischen Wirklichkeiten von DDR, Mauerfall und Wende ineinander quirlt, fühle ich mich als Botschafterin zu lange für alles gleichermaßen zuständig.
5. Diplomatische Krise
In meiner Sechser-WG wird sechs Mal im Jahr „Weil heute dein Geburtstag ist“ gesungen. Lange war das eine Selbstverständlichkeit, dann änderte sich die Zusammensetzung und plötzlich kannten die Neuzugänge es nicht, denn das Lied ist ein Kennzeichen der Ostsozialisierung. Neuen, westsozialisierten Mitbewohner*innen bringen wir es seither geduldig bei. Allerdings bemerke ich eine zunehmende Müdigkeit, diese Vermittlungsarbeit zu leisten. Ich habe eine handfeste diplomatische Krise. Vielleicht war ich einfach zu oft dabei, wenn jemand Westsozialisiertes zum ersten Mal nackt in einen Brandenburger See gestiegen ist und anschließend tagelang euphorisiert war, weil das ein sehr aufregendes neues Badegefühl zu sein scheint. Ich habe so oft Liedstrophen langsam wiederholt und Karten auf Bierdeckel gezeichnet, dass ich mich in diesen Gesprächen schlicht langweile. Ich bin müde davon, mir Witze über Bananen anzuhören. Ich bin müde davon, mich zu Klischees des Ostens als Neonazihochburg und Hotspot uninformierter Hinterwäldler*innen verhalten zu müssen. Und besonders müde bin ich davon, die schmerzhaften Seiten ostdeutscher Wendeerfahrungen gegen pauschale Jammerlappenvorwürfe zu verteidigen. Es ist eine allzu beliebte Gesprächstaktik, alle wabernden Vorannahmen rauszuballern und mal abzuwarten, worüber ich lache, worüber ich die Augen verdrehe, wogegen ich mich wehre. Meine Reaktionen und ihr Emotionsgrad erledigen dann den Lernprozess der Ahnungslosen. Ich aber lerne dabei inzwischen nur noch so selten etwas, dass ich meine Emotionen nicht länger als Depesche zur Verfügung stellen mag. Zu lange habe ich was das Zeug hält repräsentiert, damit andere sich die Arbeit sparen können. Mein Job als Botschafterin ist nur noch das Resultat westdeutscher Faulheit. Aber ich war auch nicht dabei. Was ich über die DDR weiß, weiß ich durch Lesen, Fragen und Zuhören.
Ich beobachte eine ähnliche Müdigkeit bei Freund*innen mit Migrationshintergrund, mit Behinderung, mit nicht heteronormativen Beziehungen oder mit nichtchristlichen Religionen. Viele sind ihrer Botschafterrolle überdrüssig. Viele haben keine Lust mehr, irgendwelchen Leuten die Welt zu erklären und dann als „erfrischend anders“ und „gut integriert“ und „in der Gesellschaft angekommen“ gelobt zu werden. Denn „gut integriert“ oder „in der Gesellschaft angekommen“ können wir nur sein, weil das Gegenteil möglich, offenbar sogar wahrscheinlicher ist: nicht dazuzugehören.
Eines der schönsten Geburtstagsgeschenke aller Zeiten haben mir übrigens zwei westsozialisierte Freund*innen gemacht, die sich „Weil heute dein Geburtstag ist“ selbst beibrachten und für mich sangen. Es ist meine einzige Erinnerung an einen Moment, in dem ich nicht Botschafterin spielen musste, weil mein Gegenüber die Arbeit selbst erledigt hat, statt sich von mir was vorsingen zu lassen.
Weitergehen
DDR
Da am Anfang der Kurzgeschichte auf eine DDR-Rundfunksprecherin, Inge Bartels, hingewiesen und – so die Vermutung – die Stimme der Nachbarin mit derjenigen der Rundfunksprecherin assoziiert wird, erfolgt eine Fokussierung der innerdeutschen Nachbarschaft…
Metapher
Einer, der das sieht, denkt über die Metapher nach.
nackt
Es fühlt sich an, als würde man sich nackt ausziehen.
Umgebung
Während sich Mittel- und Oberschichten freiwillig ihren Wohnstandort und damit die sozialräumliche Umgebung für potentiell gelebte Nachbarschaft suchen können…
Vergangenheit
…wenn auch im Angesicht des ersehnten Todes, der die Leidensgenoss*innen von einer pessimistisch eingeschätzten Zukunft, in der sich die Vergangenheit wiederholt, bewahren soll.
Migrationshintergrund
Oft genug sind sie seit vielen Generationen Deutsche (haben heute also nicht einmal mehr offiziell einen Migrationshintergrund).
Geburtstag
Und in der Ferne? Nur zu erahnen: ein runder Geburtstag ragt als Wurzel heraus, die er leichtfüßig nimmt
Osten
Hier fällt auf, dass wiederholt vom „Osten“ die Rede ist.
Spree
In einem geologischen Überblick über Berlin und die Mark Brandenburg von der Spree bis zur Havel fügt er hinzu: „[L]eicht schlägt […] die wässrige und sumpfige Zeit noch durch“.
Grenze
If neighbourhood is about mutual support, then my recovery-neighbourhood eschews Berlin’s formal district boundaries.
Mauerfall
Sie sind beide (großteils) in West-Berlin kurz vor und unmittelbar nach dem Mauerfall angesiedelt und beziehen sich auf die außergewöhnlichen politischen Entwicklungen der Wendezeit…
WG
In diesen Zufalls-WGs ist die Nachbarschaft nicht immer einfach. Aber man arrangiert sich.
Schule
…getting their children into good schools, spending a fortune relandscaping their quaint gardens, patronising the golf club and supporting the Queen.
Zensur
One was never (ever!) supposed to reveal anything to any of them, especially ‘personal’ things, and each of them imposed the same censorship on us.
Supermarkt
Zu welchem Grad die Formsteine heute noch bewusst wahrgenommen werden, bei der Heimkehr oder auf dem Weg zum Supermarkt, lässt sich nur schwer einschätzen.
Leerstelle
Selbst ohne den Tod eines Haustiers können sich eines Tages unerklärliche Leerstellen im Seelenleben eines Menschen einnisten.
arbeitslos
Als sie im Souterrain in Lichterfelde West lebten, waren sie dauerhaft arbeitslos.
Erbschaft
Herr Tiberius sagte, dass er eine Erbschaft gemacht habe, dass er den größten Teil des Kaufpreises übernehmen könne.
Eltern
Mit Aplomb und Türenschlagen und doch einer gewissen Rest-Unterstützung der Eltern.
Mitbewohner*innen
Noch mysteriöser liegt der Fall von Spaiks nächster Nachbarin und Mitbewohnerin, einem einheimischen Mädchen, dem er den deutschen Namen Lieschen gegeben hat.
Auch geographisch und klimatisch sollte das Menschengeschlecht ein zusammenwohnendes, nachbarliches Volk sein, das so wie Pest, Krankheiten und klimatische Laster auch klimatische Wärme und andre Wohltaten einander schenkte.
Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1784
Über das Projekt
Die Anthologie NACHBARSCHAFTEN, herausgegeben von Christina Ernst und Hanna Hamel, ist eine Publikation des Interdisziplinären Forschungsverbunds (IFV) „Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur“ am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Seit 2019 erforscht das Projekt das Phänomen der Nachbarschaft in der Gegenwartsliteratur und bezieht dazu Überlegungen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen mit ein. In der im November 2020 online gestellten Anthologie können Leser*innen durch aktuelle Positionen und Perspektiven aus Literatur und Theorie flanieren, ihre Berührungspunkte und Weggabelungen erkunden und sich in den Nachbarschaften Berlins zwischen den Texten bewegen.