In den Wochen des zweiten Lockdowns seit November (den ersten habe ich im Süden Deutschlands verbracht) erlebe ich nun zum ersten Mal in Berlin mit, wie ein Kiez immer stiller wird – und wie dieser Dämmerzustand des Urbanen mit den länger werdenden Herbstnächten einhergeht. Die Stille diffuser Spätnachmittage verlängert sich auch in die Häuser und Hausflure hinein. Der ‚Stumme Portier‘ im Eingangsbereich des Altbaus im kleinen Moabiter ‚Protestantenviertel‘ (aka ‚Thomasiuskiez‘), in dem ich wohne, hat noch weniger zu sagen als früher: Die dort noch aufgeführten Mieter*innen sind inzwischen von der Gentrifizierungswelle fortgespült worden, die in den letzten Jahren auch diesen unscheinbaren Kiez zwischen der Justizvollzugsanstalt Moabit und dem Schloss Bellevue auf der anderen Spreeseite erfasst hat. Das Haus, in dem ich wohne, scheint halbleer in diesen Wochen. Die neuen Wohnungseigentümer verbringen den Lockdown offensichtlich zum größten Teil anderswo; regelmäßig höre ich nur die Nachbarn unter mir, wenn sie mit ihrem Hund rausgehen, dazu ab und zu ein paar Geräusche unten aus dem Hof von der Müllabfuhr und den Paketboten.

Macht die Corona-Dämmerung Aspekte meines Viertels wahrnehmbar, die mir sonst nicht aufgefallen wären? In den Wochen des ersten Lockdowns im Frühjahr war ich vor allem auf den Nahbereich meiner Zimmerreisen im Familienumkreis und auf den Umgang mit der ungewohnten physischen Distanz zu anderen Passant*innen vor der Haustür konzentriert – gemeinsam mit ein paar Bekannten habe ich damals versucht, schreibend Möglichkeiten der kritischen Begleitung von sich verändernden sozialen Gewohnheiten zu finden, die durch die Pandemie hervorgetreten sind.1 In diesen Wochen der zweiten Welle, die ich zumeist allein in der Wohnung verbringe und in denen ich Menschen kaum noch anders sehe als in streng rechteckig abgeschlossenen Bildschirmkacheln via Zoom, denke ich offensichtlich mehr über die Veränderungen des Urbanen jenseits sozialer Kontakte zu anderen Menschen nach: Von den wenigen Lebenszeichen aus den Nachbarwohnungen gleite ich nachmittags, wenn die Dunkelheit vom Spreebogen her über meinen Kiez kriecht, zunehmend in die ferneren historischen Umstände ab, die ein Viertel wie Moabit zu dem gemacht haben, was es heute ist. Damit sind nicht nur Denkmäler der Stadtteilgeschichte gemeint wie der ganz in meiner Nähe beginnenden Gefängnis- und Gerichtskomplex, der die Archive der Stadt mit Prozessakten und Gerichtsreportagen füllt. Auch denke ich nicht in erster Linie an die französischen Hugenotten, die dieses Stück Land im 18. Jahrhundert besiedelt haben und nach denen wie nach anderen Reformatoren die Straßen meines Viertels benannt sind. Woran ich gedanklich hängenbleibe, ist vielmehr das noch unbesiedelte Stück Land selbst, das diese Siedler und Flüchtlinge in Anlehnung an das Alte Testament als „terre de Moab“ bezeichnet haben, wovon sich der Name des heutigen Viertels Moabit herleitet. Wie es heißt, konnten die ersten Siedler wenig mit der Mischung aus sandigem und sumpfigem Boden anfangen, die sich nicht so wie erhofft für die Anpflanzung von Maulbeerbäumen zur Seidenproduktion eignete.2

Aber wie steht der Boden von Moabit dann in Verbindung zu dem, was dieses Viertel bzw. diese Stadt heute sind? Ich versuche, dies bei einem kleinen gedanklichen wie physischen Ausflug in dasjenige, was man neuerdings die „kritische Zone“ der bodennahen Grenzschicht nennt, herauszubekommen – d.h. die Zone, in der sich alles biologische Leben auf der Erde ansiedelt und an der sich auch die menschengemachten Veränderungen der Lebensbedingungen im Zeitalter des so genannten Anthropozäns ablesen lassen.3 Down to earth – diese Aufforderung zum situierten Denken vom Boden her sollte ja eigentlich auch für meinen Kiez gelten, oder, noch weiter eingegrenzt, für den Hinterhof des Hauses, in dem ich wohne. Was dabei herauskommen könnte: Eine kritische kulturwissenschaftliche Beobachtung zum Denken in und mit kritischen Zonen.

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In dem ganzjährig sonnenlosen Hinterhof, der sich bislang erfolgreich gegen jeden Begrünungs- oder anderweitigen Verschönerungsversuch behauptet hat, hält sich selbst an den heißesten und trockensten Tagen des Jahres, an denen die Spree nicht weit weg rückwärts fließt, und erst recht im Spätherbst, eine leicht muffig riechende Feuchtigkeit – sie lässt an die sumpfig-sandige Landschaft denken, die die Hugenotten hier bei ihrer Ankunft auf der „terre de Moab“ vorgefunden haben müssen. Ein aufmerksamer kritischer Leser dieser geologischen Spuren ist, noch bevor kritische Zonen aus erdgeschichtlicher Sicht erfunden sind, Ernst Bloch: In seinem Feuilleton-Essay „Berlin aus der Landschaft gesehen“ aus dem Jahr 19324 könnte er auch an das Quartier der protestantischen Moabiter in Berlin gedacht haben, wenn er schreibt, dass „soviel Wasser noch in keine Wüste gekommen“ sei und sie „verschlammt und versumpft“ habe. In einem geologischen Überblick über Berlin und die Mark Brandenburg von der Spree bis zur Havel fügt er hinzu: „[L]eicht schlägt […] die wässrige und sumpfige Zeit noch durch“.

Wie äußert sich aber für Bloch in den Dreißigerjahren dieses Durchschlagen, diese Artikulation von Geologie und urbaner Kultur „von der Landschaft aus“? Denkt man an die politische Geographie bzw. an die davon abgeleitete Geopolitik, die sich zu dieser Zeit formiert, so würde man wohl am ehesten einen geodeterministischen Ansatz erwarten, der die Sandigkeit und die Sumpfigkeit Berlins von der Geologie in die Architektur, Ökonomie und Kultur überträgt und zum Gegenstand einer Abrechnung mit der Tristesse der Stadt macht. Doch hier nimmt Blochs Denken eine scharfe Wendung: Ihr instabiler Grund prägt seiner Meinung nach die Stadt gerade nicht im Sinn eines ihre Geschichte determinierenden Geofaktors, sondern legt ihr vielmehr die Ablösung von dieser zweifelhaften Bedingung ihrer Existenz nahe: „Die Stadt hat es jedenfalls leicht, [sich] von einem Boden abzustoßen, der sich selbst schon keiner ist.“ Anders als die Städte des katholischen Südens Deutschlands mit ihrer Einbettung in eine Landschaft, die charakteristische Eigenschaften aufweist, liegt Berlin für Bloch „ungedeckt in der experimentellen Zeit, nicht täuschend warm in den Bergen und Kulturländern des gewordenen Raums“ – und das ist aus seiner Sicht auch gut so. In Berlin bleibt alles Urbane in Bewegung, hier hat „selbst die Dichtung keine Differenzierungskraft irgendwelcher stofflichen Bestimmtheit, sondern die Fluktuation jüdischer, hugenottischer, junkerlich-abstrakter, kapitalistisch-abstrakter Wendigkeiten durcheinander.“ Bloch selbst sieht somit konsequenterweise gerade in der geologischen Unbegründetheit von Berlin das „Gespenst einer besseren Zukunft“ auf allen Ebenen des städtischen Lebens erscheinen.

Zugegeben: Kein direktes Wort über mein Viertel fällt in diesem kurzen Text, nur eine Seitenbemerkung über die jüdische sowie hugenottische Tradition Berlins, die beide in der Namensgebung ‚Moabit‘ aufscheinen und für die der geologische ‚Ungrund‘ der Stadt nach Bloch eine Art von Freiheits- und Entwicklungsversprechen darstellt. Und dennoch lässt mich der Modergeruch meines Hinterhofs einen solchen Blick „von der Landschaft aus“ auf meinen Kiez werfen, hinein in eine „entorganisierte“ (sprich: sich nicht organisch mit ihrer Umgebung verbindende) Stadt, die deshalb nicht in ihre Umwelt eingebunden ist, weil diese selbst nichts Organisches hat. Doch was bedeutet dieser erfolgreich vollzogene Bruch mit den geologischen Bedingungen der Stadtentwicklung, der Ernst Bloch noch Anlass zur Hoffnung auf eine bessere Zukunft gegeben hat, aus gegenwärtiger Sicht? Könnte die für Bloch potenziell befreiende Perspektive der Ablösung der Stadt von ihrem Grund im Zeitalter des Terrestrischen umschlagen in die Ahnung, dass jeder Versuch einer solchen Desartikulation in der langen Dauer und im großen Maßstab des Anthropozäns terrestrische Gegenreaktionen hervorrufen könnte, über deren genaue Gestalt und Ausmaße sich nur spekulieren lässt?

Ich verlasse den Hinterhof, gehe vorbei am Stummen Portier und trete auf eine von der von Bloch beschriebenen „öden Straßen“ meines Viertels, über die „das Licht […] abends [hinweg] onduliert“. Kein Mensch ist zu sehen, nur ein Hund mit auffällig buschigem Schwanz streunt langsam den Gehsteig entlang. Als er sich gelassen nach mir umblickt, sehe ich, dass es gar kein Hund ist, sondern ein Fuchs, der zumindest nachts das Protestantenviertel inzwischen als seinen Kiez beansprucht – als Gespenst welcher Zukunft in der grundlosen Stadt?

  1. Vgl. das kollektive Schreibprojekt „Triakontameron“ (http://triakontameron.de, initiiert von Martina Bengert, Max Walther und J.D.), das ab dem 27. März 2020 einen Monat lang den ersten Lockdown mit Tagestexten unterschiedlicher Beiträger*innen begleitet hat.
  2. Vgl. insbes. Bernd Hildebrandt: 300 Jahre Moabit: zur Geschichte eines Berliner Stadtteils von der hugenottischen Gründung 1718 bis zur Eingemeindung nach Berlin 1861, Berlin 2018.
  3. Das Denk- und Aktionskollektiv rund um Bruno Latour hat in jüngster Zeit diesen Begriff für sich reklamiert und versucht nicht zuletzt mit Ausstellungen wie „Critical Zones“ in Karlsruhe (vgl. den gleichnamigen, von Peter Weibel und Bruno Latour herausgegebenen Katalog [Karlsruhe/Cambridge, Mass. 2020]) und „Down to Earth“ in Berlin (vgl. https://www.berlinerfestspiele.de/de/immersion/programm/2020/down-to-earth/start.html sowie Latours gleichnamigen Essay [Cambridge 2018]), die Klima- und Erdsystemforschung ins Gespräch mit der Kulturtheorie und somit einem auf den ersten Blick ganz anderen Verständnis von ‚Kritik‘ zu setzen.
  4. Zitiert nach: Ernst Bloch: Der unbemerkte Augenblick, Frankfurt a. M. 2007, S. 291–302. Alle im Folgenden angeführten Zitate stammen aus diesem Text, aufgrund seiner relativen Kürze wird auf Einzelnachweise verzichtet.

Weitergehen

Hinterhof

Verirrt man sich jedoch in den Hinterhof, wo der ununterbrochene Autoverkehr zur leisen Geräuschkulisse wird, trifft man plötzlich auf einen zwischen den Bäumen sitzenden nackten jungen Mann.

Lockdown

Die dadurch neu entstandenen Beziehungen und Netzwerke und das nachbarschaftliche Gemeinschaftsgefühl prägen das Wissen über und die Wahrnehmung von Nachbarschaft auch weit über den Lockdown hinaus.

Gerichtsreport

Und tatsächlich landeten viele Anzeigen der Zeit erst durch das ‚Gerede im Haus‘ auf dem Tisch der Staatsanwaltschaft, wie Tergit als Gerichtsreporterin sehr gut wusste.

Stummer Portier

Nur noch selten findet man heute in den Hauseingängen der Berliner Mietskasernen aus der Gründerzeit einen Stillen Portier.

Kiez

in berlin wollense wissen, in welchem kiez du lebst. kreuzberg ist eine gute antwort.

Altbau

Meine Mitschüler wohnten an entgegengesetzten Enden der Stadt, die einen im mondän verfallenen Altbau in Mitte

Distanz

Aus der Distanz ist das Erlebte ein Steinbruch…

Hund

…all diese Menschen hinter den dunklen Scheiben, auf den Gehwegen mit ihren Masken und angeleinten Hunden und Kapuzen und Handys sind irgendwie ihre Menschen.

Haustür

…denke ich an die hohen Schuhe meiner Anneanne. Und die Stoffpantoffeln, die plötzlich vor ihrer Haustür lagen.

Pandemie

Aus epidemiologischer Sicht ist es in Zeiten der Pandemie ratsam, physisch auf Distanz zu gehen – sozial muss dies den Beziehungen dagegen keinen Abbruch tun.

Lebenszeichen

Aus New York, aus Berkeley, aus Boca Raton, aus Lexington, aus Haïfa, aus Ranswick, aus London schickten meine ehemaligen Nachbarn Lebenszeichen.

Leser

Die Ich-Perspektive zieht Leser/Zuhörer direkt in den Text hinein.

Flüchtlinge

Zudem beantworten Nachbarin und Nachbar mit Rückblick auf ihre Lebenserfahrungen, nämlich „zweimal Krieg mitgemacht [zu haben], plus Flüchtling, plus Inflation“…

Landschaft

Der weiße steht auf der Sohle, die durch ein Fenster Einblick gewährt in innere Landschaften aus erkalteten, aber noch weich wirkenden Wolkengebilden.

Spree

Er ist Prediger gewesen, hat die jungen Männer und Frauen im See getauft, zuletzt in der Spree am Treptower Park.

Geräusch

Über Leben ist ein Berlin-Spaziergang, der synästhetisch (also in einer Kombination und Transportation von Sinnesreizen) von den Gerüchen, Geräuschen, Geschmäckern, Gebäuden und Gestalten Berlins erzählt.

Umwelt

Diese drei Begegnungen konnten hoffentlich zeigen, wie fruchtbar eine solche Herangehensweise für das Verständnis unserer „komplex gestalteten Umwelt“ ist.

Architektur

„wie in der architektur“, so merkte Gomringer dazu an, „gilt für die sichtbare form der konkreten dichtung, daß sie gleich deren struktur ist [sic]“.

Fuchs

Auch wenn mir der Fuchs in der Stadt hin und wieder begegnete, schienen diese Augenblicke schneller in Vergessenheit zu geraten.

Es gibt vielleicht keinen Menschen, und wäre er noch so tugendhaft, den die Umstände nicht eines Tages dazu bringen können, in nächster Nachbarschaft des Lasters zu leben, das er mehr als alle verdammt.

Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, 1913

Über das Projekt

Die Anthologie NACHBARSCHAFTEN, herausgegeben von Christina Ernst und Hanna Hamel, ist eine Publikation des Interdisziplinären Forschungsverbunds (IFV) „Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur“ am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Seit 2019 erforscht das Projekt das Phänomen der Nachbarschaft in der Gegenwartsliteratur und bezieht dazu Überlegungen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen mit ein. In der im November 2020 online gestellten Anthologie können Leser*innen durch aktuelle Positionen und Perspektiven aus Literatur und Theorie flanieren, ihre Berührungspunkte und Weggabelungen erkunden und sich in den Nachbarschaften Berlins zwischen den Texten bewegen.