I
Die erste Wand war dünn. Sie hat nicht viel gesehen. Weil es so finster war. Man hat vom Fenster in den Hof geschaut. Nicht in den ersten oder zweiten. Sondern hinten raus. In den Hof zwischen den Häusern. Auf das Hinterhaus von irgendeiner Mietskaserne. Ich weiß bis heute nicht, auf welches Haus ich da eigentlich geschaut habe. Kameruner oder Togostraße. Auf welche Nummer, welchen Aufgang. Die Häuser hier sind alle merkwürdig gewachsen. Vom Rand mäandernd ins Karree hinein. Wo die letzten Triebe aufeinander treffen, da habe ich raus- und reingeschaut.
„Gartenhaus“, hat der Mann von der Verwaltung mir erzählt. Aber Gärten hat es nicht gegeben. Es war erst Mitte Mai, aber er hat schon geschwitzt wie im August. Nur Brache gab es vor dem Fenster. Drei Bäume, die miteinander fremdeln. Er hat den Mietvertrag auf meinem Rücken machen wollen. Aber ich bin immer ausgewichen und habe mir irgendwas beschaut.
„Oh, Scheuerleisten!“, habe ich geflüstert. Er hat den Mietvertrag dann auf dem Fensterbrett gemacht. Nur Kreuze überall. Ein Standardmietvertrag. Besenrein bekommen. Besenrein zu übergeben. Er war glücklich, dass die Bude jemand wollte. So war das damals. Das erste Nullerjahr. Die Makler haben auf gut Glück gearbeitet. Ich habe auf der Fensterscheibe unterschrieben. Erst da habe ich gerafft, dass ein Fliegengitter alles überspannt. Kleinmaschig wie Seide. Ungefiltert kam nur Luft herein und Moleküle. Wellen aber mussten zur Hälfte draußen bleiben. Licht gab es deshalb wenig. Sonne an keinem Tag im Jahr. Dafür links eine Brandwand und rechts eine Brandwand. Und die ganze Decke voller Miniermotten. Wenn man dumm genug gewesen war, das Fliegengitter abzupopeln. Zum Abschied hat er meine Hand befremdlich lang gehalten und mit dem heißen feuchten Zeigefinger meine Pulsadern gestreichelt. Das habe ich niemandem erzählt. Mutter nicht, Vater nicht. Als sie am Abend mit dem Kastenwagen kamen, der Matratze, dem Schreibtisch und Bananenkisten. Ich habe nichts davon mehr übrig. Nur sechs kaputte Reclamhefte. Alles sonst ist ausgetauscht. Mutter hat sich jeden Kommentar verkniffen. Das war mir fast Genugtuung. Ich habe gewusst, die Wohnung ist ihr nichts. Aber noch mehr, dass dieses Nichts jetzt mir gehört. Durch Null kann man nicht teilen. Will auch keiner. Am letzten Abend hat Vater einen Streit vom Zaun gebrochen. Weil er lieber böse mit mir ist als traurig. Die erste Hälfte musste Mutter fahren. Bis weit nach Göttingen. Weil Vater zu oft angefangen hat zu weinen.

II
Die zweite Wand war speckig. Man hat gesehen, wo die Vormieter die Betten stehen hatten. Hinterköpfe und im Sommer nackte Schultern. Da hat mal eins gestanden. An der Tür und unterm Fenster und neben dem Balkon. Der Talg von allen, die hier schon gewohnt haben, lief einmal an der Wand entlang. Wie eine Bordüre. Man konnte tünchen, wie man wollte.
Die Maklerin hat gut gespielt. Ich war ihr einziger Termin. So war das damals. Für eine Besichtigung von Steglitz in den Wedding.
Das gleiche Konvolut wie bei der letzten Wohnung auch: Zimmer, Küche, Bad. Aber diesmal unterm Dach.
„Eigentlich zu teuer“, habe ich ihr gesagt.
„Was ist Ihr Limit?“, hat sie mich gefragt. Und dann das Limit um ein Drittel unterboten. Wedding war ihr viel zu weit weg. Ihr und ihrem Chef. Dem Zwangsverwalter.
Von dem gesparten Geld habe ich in beiden Zimmern die Tapete von der Wand geholt. Dann waren alle Schatten fort. Und später neues Laminat verlegt. Weil das alte mitgelaufen ist.
Im Frühjahr und im Herbst war die zweite Wohnung super. Der Balkon. Der Blick. Hinein in einen wilden Hinterhof und der Lüderitzstraße in den Nacken. Vier Jahre lang verliebt gewesen, in ein fremdes Leben. Schräg gegenüber. Ich habe ihn Max genannt. Max war oft allein und oben ohne. Weil man im Sommer fast verglüht ist. Im Winter hat einen die Kälte zurück ins Bett gejagt. Die von der Decke kam, wie Nebel. Im ersten Jahr bin ich oft aufgeschreckt, weil oben unterm Giebel wer erstochen wurde. Beim vierten Mal ein Herz gefasst, hochgeschlichen und begriffen: So klingt es halt, wenn Katzen Liebe machen. Vor der Tür zum Dach gestanden und an diesen Max gedacht. Über dem zweiten Stock hat keiner mehr gewohnt. Auch heute träume ich davon, wie gruselig das war. Nachts durch ein Haus zu steigen, wo niemand lebt. Einmal bin ich aus der Tür und auf der Treppe stand ein Fuchs. Seelenruhig ist er die Stufen runter. Immer einen halben Stock voran. Erst im Hof habe ich ihn verloren.
Dann, im dritten Jahr, den Weg aufs Dach gefunden. Gefunden. Das Schloss zum Speicher hat sich kaum gewehrt. Die Luken waren nur verriegelt. Man konnte über alle Dächer steigen. Einmal im Karree. Lüderitz, Kamerun, Togo, See. Fast jeden Abend bin ich dort oben um den Block spaziert. Und einmal, nachts, bei Max auf die Terrasse. Aber vor Panik wieder weg.
Ein andermal gesehen wie der Schornsteinfeger auf dem Dach stand und verborgen hinter einer Brüstung abgesemmelt hat. Gewichst. Irgendeine Barbusige gegenüber. So lange gegafft, bis er mich gesehen hat.
„Runter du Arschloch!“, hat er gebrüllt. Aber um aufzuhören war er schon zu weit.
Dann ein neuer Eigentümer. Harry irgendwas. Wegen dem sie beim Mieterschutzbund nur den Kopf geschüttelt haben. Der neue Preis war doppelt so hoch. Nicht wie meine Miete. Wie mein Limit von damals.

III
Die dritte Wand war kalt. Sie war so lang wie die ganze neue Wohnung. Viele Meter Flur und dann die Stube. Alles Brandwand Richtung Müllerstraße. Man musste für das Wetter nur an die Tapete fassen.
Jede neue Wohnung war ein Steinwurf weiter Richtung U‑Bahnhof gewesen. Jetzt noch einen Stein zu werfen hieße, sich wieder zu entfernen. Überall hin nur ultrakurze Wege. Mehr Knotenpunkt als Kiez. Aber nicht laufen müssen, nur noch fallen, aus der Tür heraus in alles, was wichtig war im Leben, das hatte seinen Reiz.
Die Wohnung lag im dritten Stock. Ein schräger Blick aufs Dach. Der mich im ersten Jahr oft mit Wehmut überzog. Bis ich von diesem Mädchen las, das bei einer Dachparty in Kreuzberg in einen Schacht gefallen war und keiner hats gemerkt.
Hier kam man nicht hinauf. Hier war im vierten Stock schon Schluss. Im Vierten war nicht viel. Nur Dieter.
Bei der Besichtigung war mein slawisches Gesicht von allen das exotischste. So war das damals. Vierzehn junge Paare, die sich ihre Finger nach den Dielen leckten. Der Mann von der Verwaltung war so alt wie ich.
„Ist das Mitte?“, fragte eine.
„Ja, Mitte!“, sagte er.
Gelogen war es nicht, aber die ganze Wahrheit eben auch nicht. Ich habe gemerkt, wie er sich das Schelmische verkneifen musste und ihn sofort begrinst, wie ein ertapptes Kind. Da hat er aufgelacht und uns war klar: Der Pole wird sie kriegen.
Die dritte Wand hat viel erlebt. Mich. Wie ich lange werden wollte. Der offen schwule Schriftsteller. Mit Freunden, so eng und heilig wie Familie. Das hat sie erlebt, die dritte Wand, die dritte Wohnung. Aber auch Faschodieter aus dem Vierten. Wegen dem ich bald zum ersten Mal die Polizei gerufen habe. Die Polente hat ihn nicht geschert. Zwei Mal habe ich es probiert. Bis er im Suff die eigene Katze vom Balkon geboxt hat. Dann war es mir zu heikel. Leider war es längst zu spät. Jetzt war ich der Typ im Haus, der immer die Polente ruft. Und wenn sie kam, war Faschodieter klar, der Pole wars. Deswegen bin ich ausgezogen. Weil er nachts um drei die Tür zur meiner Wohnung eingetreten und mir im Halbschlaf ins Gesicht geboxt hat. Und hätte Max nicht neben mir gelegen, Max und sein dünner Schlaf, dann hätte Faschodieter mich erschlagen.
„Ach Quatsch!“, sagt Max. Aber ich weiß, es stimmt.
Am übernächsten Tag stand Dieter vor der Tür. Mit Rehaugen und Fistelstimme und einem Zettel in ungelenker Schrift, aus dem man in jedem Nebensatz, in jedem gutgemachten Kasus den Sozialarbeiter hören konnte.
Manchmal gehe ich vorbei, am Klingelschild, und gucke nach ob Dieter noch da wohnt. Die Hausverwaltung wird ihm dankbar sein. Dass alle Mieter um ihn rum nach einem Jahr, manchmal zwei, die Segel streichen. Einmal malern, einmal fegen und dann, dank Dieter, die kalte Miete um ein Zehntel rauf. Er wohnt noch heute da. Ich nicht.

IV
Die vierte Wand ist die bisher beste. Otawistraße Ecke Lüderitz. Zwei Zimmer, Erker, ein Balkon und Abendsonne. Dabei soll es bleiben. Aber so ehrlich muss man sein: Das habe ich bei der zweiten und der dritten auch gedacht.
Die vierte Wand war reines Glück. Wie schnell es damit ging. Weil Dieter mir im Nacken saß.
Jetzt kamen Makler gerne in den Kiez. Mit unberührten Sneakern. Deren Sohlen nie etwas zu sehen bekamen, was nicht anorganisch war. Sperrten auf und trieben vierzig oder fünfzig Paare durch den Flur, wie Kälber.
Die vierte Wand war meine, weil Max Leszek kannte und Leszek Temye und Temye eine Julia und Julia den Makler. Julia habe ich nicht gekannt. Später erst bin ich ihr begegnet.
„Ach du bist das!“, hat sie gesagt. Und so getan, als hätte sie die Zusage für mich erschlafen.
Zehn Jahre wohne ich jetzt hier. Das reicht, bis man alle überrundet hat. Nur das Paar in der Remise wohnt länger hier als ich. Sonst sind alle ausgetauscht. Es gingen von uns, in den C‑Bereich: Frau Buldan, Herr Chronidis und Familie Koszko. Ins Himmelreich: Frau Draschke. Als ich einzog wussten alle, die wurde hier geboren. Jetzt weiß niemand, außer mir, die hat hier mal gelebt.
Die Wohnung über mir ist frei. Ich habe kurz an Max gedacht. Es ist der gleiche Schnitt und Standard. Nur der Preis hat sich verdoppelt. Die Besichtigung dauert schon drei Tage. Ich habe bei hundert Füßen aufgehört zu zählen. Der Makler hat jetzt einen Praktikanten. Manchmal stehen sie vor dem Haus und rauchen. Sie lassen sich Sashimi kommen, dass sie vor dem Köfteladen auf dem Stromkasten verspeisen. Es wäre Zeit genug, leise in den dritten Stock zu huschen, in die leere Wohnung, und mit Farbe, die nachts leuchtet, an jede Wand zu sprühen: „You pay twice as much as everybody else does.“
Ich geh mit allem in meiner Wohnung super pfleglich um. Damit ich keine Hunde von der Hausverwaltung wecke. Wenn was Kleines ist, dann mache ich es selbst. Den Siphon tauschen oder neues Silikon. Die großen Sachen mache ich mit Max. Er kann alles. Auch Trockenbau und Starkstrom. Ich möchte ihn bezahlen. Aber Max sagt immer: „Passt schon!“ Dabei weiß ich, dass er wenig hat. Wenig hatte.
„Nächstes Jahr“, hat Max gesagt, „können wir verputzen.“
Das war im letzten Herbst. Vor seiner Kündigung. Wegen Eigenbedarf. Sie haben ihn gleich nach Neujahr in der Duschwanne gefunden. Schneidersitz. Ganz ordentlich.
Ich hätte mich ja nur ins Bett gelegt oder auf den Boden, aber Max war es ums Parkett zu schade. Jetzt guckt er von unten auf den Kyffhäuser. Die Eltern haben nicht gewollt, dass er in Berlin begraben wird. Sie wollten gar nicht mehr hochkommen. Dabei sind sie viel jünger als meine. Die Übergabe habe ich gemacht. Es war die letzte Gelegenheit. Noch einmal oben um die Häuser. Ich bin raus auf die Terrasse und von der Terrasse rauf aufs Dach. Einmal im Karree. Wie damals, nur rückwärts.
See, Togo, Kamerun und Lüderitz. Die Frau von der Verwaltung war zu früh. Am Ende ist sie Mensch geworden, ganz kurz, und hat gefragt, was ich glaube. Die Kündigung wegen Eigenbedarf. Ob es daran lag. Natürlich habe ich „Nein“ gesagt. Gelogen war es nicht, aber die ganze Wahrheit auch nicht.

Weitergehen

Mietvertrag

Ums kurz zu machen, Herr Krist kündigte, sobald er das Haus Schreinerstraße 25 gekauft hatte, meinen Übermietern den Mietvertrag. Er wollte Wohnungen zusammenlegen lassen…

Fuchs

„Einen Fuchs habe ich hier auch schon gesehen.“

Brandwand

Nahe der Brandschutzmauer, die den Garten zu einer Seite hin abgrenzte, standen Weinreben.

Kündigung

Brief vom Vermieter? – Ja, mit Kündigung.

Balkon

Selbst im Sommer bei großer Hitze bleibt jeder zu Hause, die Vorhänge zugezogen. Die Gespräche auf den Balkonen sind gedämpft.

Klingelschild

Wessen Name auf dem Klingelschild stehen darf, regelt in Deutschland das Mietrecht.

Polizei

Sie kennt den Sklaven- und Drogenhandel des Hausmeisters und das Desinteresse der Behörden und der Polizei.

Hinterhaus

Der Trakt der Außentoiletten in dem fast entmieteten Hinterhaus hatte den sibirischen Minusgraden nicht standgehalten. Die Rohre waren geplatzt. Die Toilettenbecken waren geplatzt.

Fenster

Ich denke an meine Mutter und ihren Lieblingsfilm „Das Fenster zum Hof“. Aber auch an die Zeit, in der die Fenster unserer Parterre-Wohnung nachts geschlossen blieben, wegen eines Stalkers.

Wand

Manche dieser Autoren gingen mit Fotoapparaten auf öffentliche Toiletten und knipsten Bilder von den Sprüchen und Graffitis an der Wand, um sie dann als literarische Readymades vorzutragen.

Parkett

Ebenfalls gut geeignet, Wutanfälle auszulösen: Kinder, die nicht grüßen, die das Treppengeländer runterrutschen, die Basketball im Hof spielen und vor dem Hauseingang Skateboard fahren; die Ruhelosen, die mitten in der Nacht im Fernsehen Fußballspiele anschauen, ihre Toilettenspülung betätigen oder auf dem knarzenden Parkett auf und ab gehen, um die Zeit bis zum Morgengrauen totzuschlagen.

Mitte

der wedding kommt, der prenzlberg hat ein kinderwagenproblem, in mitte sind die zu reichen

Wedding

Theodor Fontane hat dieselbe Route einige Jahrzehnte später auch beschrieben, empfahl aber den Fußweg durch den wüsten Wedding.

Müllerstraße

Nach dem Denkmalbesuch im Wedding radle ich am Nordufer weiter über die Fennbrücke zur Müllerstraße und biege rechts in die Chausseestraße ein.

Kreuzberg

Um die Ecke in Kreuzberg liest eine belarussische Schriftstellerin, die ich längst kennenlernen wollte, in einer schummrigen kleinen Kneipe.

fremd

Sie waren fremd und ich war fremd. Aber waren sie nicht fremder?

Terrasse

Als ich im Herbst diesen Ort aufsuche, um Fotos zu machen, fallen mir die großzügigen Freitreppen und Terrassen an der Außenhaut der Philharmonie auf.

Dächer

Ende des 18. Jahrhunderts ist Wildenows Werk das erste seiner Art. Es enthält einen Eintrag zum Bryum Argenteum. Es soll „in Hülle und Fülle“ auf Ziegeln, Dächern, Hecken, Gärten, Feldern und Bäumen gewachsen sein.

rauchen

wenn man ein paar
Mal gesehen hat, dass dieser Mensch
dort in der dritten Etage fast immer in
Unterhosen am Fenster steht und
raucht

„Man kann dem Nachbar vertraun, noch mehr aber auf den Zaun.“

Wander, Deutsches Sprichwörter-Lexikon, 1873

Über das Projekt

Die Anthologie NACHBARSCHAFTEN, herausgegeben von Christina Ernst und Hanna Hamel, ist eine Publikation des Interdisziplinären Forschungsverbunds (IFV) „Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur“ am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Seit 2019 erforscht das Projekt das Phänomen der Nachbarschaft in der Gegenwartsliteratur und bezieht dazu Überlegungen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen mit ein. In der im November 2020 online gestellten Anthologie können Leser*innen durch aktuelle Positionen und Perspektiven aus Literatur und Theorie flanieren, ihre Berührungspunkte und Weggabelungen erkunden und sich in den Nachbarschaften Berlins zwischen den Texten bewegen.