1
Eines Sonntags radle ich nach der Lektüre von Wolfgang Herrndorfs Arbeit und Struktur von Mitte nach Wedding, um das inoffizielle Denkmal des Autors zu besuchen. Nachdem er im Jahr 2010 erfahren hatte, dass er tödlich an Krebs erkrankt war, dokumentierte Herrndorf in Arbeit und Struktur sein Leben während der Chemotherapie mit großen emotionalen Schwankungen zwischen Lebensmüdigkeit und Hoffnung. Der ursprünglich nur für seine Freunde bestimmte Text erschien zunächst als Blog. Die Freunde aber waren von seiner literarischen Qualität überzeugt, sodass der Blog nach dem Tod des Autors als Buch erschien.1 Darin ist Herrndorfs Kampf um die Verteidigung des eigenen Lebens gegen die Krankheit nachzulesen; ein Kampf, der am 26.8.2013 endete.

Herrndorfs Entscheidung, sein Leben mit einer Pistole frühzeitig zu beenden, hat sein Schriftstellerkollege Rainald Goetz in dem ein Jahr nach Herrndorfs Tod erschienenen Aufsatz „Spekulativer Realismus“ heftig verurteilt:

Je schwächer die Krankheit den Körper macht, umso härter wird das Ich von Herrndorf, kann sich so den Selbstrevisionen früherer Überzeugungen, die die Schwäche ihm ermöglichen könnte, nicht öffnen. Die „Waffe“ und der zu ihr gehörige Kitsch blockieren das Hinsinken, ein Lernen, das möglich wäre bis zum Schluss. Ein Jahr vor seinem Tod erklärt er, dass er sich, auch wenn er jetzt „wie durch ein Wunder geheilt würde, dennoch erschießen würde.“ Aha. Punkt. Warum? Nächster Satz: „Ich kann nicht zurück. Ich stehe schon zu lange hier.“ Warum denn? Falsch! Geh doch weg von da und schmeiß die blöde Waffe weg. Aber wer sich eine „Waffe“ besorgt, wird auch die Tat finden, die zu ihr gehört.2

Aber Herrndorf schmeißt die Waffe nicht weg. Schon im Tagebuch malt er sich aus, wie sein Denkmal aussehen soll:

Der Mensch lebt in seiner Vorstellung, und nur dort. Unmöglich, ohne den durch die Evolution im Hirn verankerten Irrationalismus leben zu wollen, und den fragwürdigen Irrationalismus verlangt es nach einem aus zwei T‑Schienen stümperhaft zusammengeschweißten Metallkreuz mit Blick aufs Wasser, dort, wo ich starb.3

Diese beiden Passagen zeugen von zwei unterschiedlichen Positionen zur Frage nach dem Verhältnis von Leben und Schreiben. Wo Herrndorf für die Nachwelt schreibt und so den Tod als eine zu überschreitende Schwelle zum beendeten Werk sieht, dort will Goetz für die Gegenwart und das aktuelle Leben schreiben.

2
Das Denkmal Herrndorfs finde ich ein Stück hinter dem Eingangsbereich zum Strandbad Plötzensee gleich neben dem Radweg. Dort steht das „aus zwei T‑Schienen stümperhaft zusammengeschweißte[ ] Metallkreuz“ – tatsächlich mit Blick aufs Wasser. Andere Herrndorf-Fans haben Kerzen aufgestellt und Kugelschreiber niedergelegt. Wenn ich mich neben das Kreuz ans Ufer setze, habe ich einen schönen Überblick über die wenigen Schiffe, die hier zwischen Spandau und Mitte verkehren. Auf der anderen Seite des Kanals, in der Nachbarschaft der Gedenkstätte Plötzensee, sind vor allem Industrie und Autowerkstätten zu sehen.

In Arbeit und Struktur ist nachzulesen, wie Herrndorf sich in einer Mischung aus manischer Todesangst und rationaler Überlegung dafür entscheidet, seine verbleibende Zeit mit Arbeit auszufüllen. Durch einen strukturierten Alltag und die Arbeit an den Romanen Tschick und Sand will er seine Depression bewältigen. Am 21.8.2010 konstatiert Herrndorf nach einem Gespräch mit einem Freund: „Mir nicht klar, wie man aus dieser Nachruhm-Sache irgendeinen Trost ziehen kann. Ich arbeite nur, um zu arbeiten.“4 Die Ironie des Lebens wollte aber, dass gerade Tschick Herrndorf den Nachruhm sichern sollte.

Die Frage nach der Attraktivität des Nachruhms beschäftigt Herrndorf überaus. Nicht nur bieten ihm das Schreiben und das ‚Leben in der Vorstellung‘ eine Ablenkung vom körperlichen Leid, die Arbeit am Gedächtnis scheint für ihn auch eine Überwindung der Endlichkeit des leiblichen Lebens darzustellen. Aus diesem Grund stehen Arbeit und Struktur und der unsichtbare Ort am Ufer des Berlin-Spandauer Schifffahrtskanals im Nachlass Herrndorfs in einem komplementären Verhältnis zueinander. Wo das Tagebuch einen Einblick in die ‚irrationale Vorstellung‘ des Autors gibt, da steht das Denkmal für dessen Nachruhm.

Herrndorf zufolge gibt es „wenig, was unsichtbarer wäre als Denkmäler“.5 Und genau diese Stellung zwischen Unsichtbarkeit und fortdauernder Präsenz in der Stadt jenseits des Todes scheint es zu sein, wovon Herrndorf in seinem Tagebuch träumt. Das Kreuz ist Symbol für Herrndorfs Leben, sein Werk (besonders Arbeit und Struktur) und seine Zugehörigkeit zum Wedding und zu der unauffälligen Gegend um den Plötzensee. Dass Herrndorf das Denkmal für genau diesen Ort konzipiert hat, ist kein Zufall. Denn wie im Tagebuch nachzulesen ist, lebte er die letzten Jahre seines Lebens im Wedding und war fast täglich am Plötzensee baden. Aus Liebe zu Berlin und zum Wedding möchte er hier deshalb auch nach seinem Tod unauffällig und doch präsent sein.

3
Nach dem Denkmalbesuch im Wedding radle ich am Nordufer weiter über die Fennbrücke zur Müllerstraße und biege rechts in die Chausseestraße ein. Hier muss ich wieder an Rainald Goetz denken, denn diese Pulsader der Mitte-Wedding-Nachbarschaft nimmt in seinem Werk seit den 1990er Jahren eine prominente Position ein.6

In „Spekulativer Realismus“ klagt Goetz Herrndorfs Unfähigkeit zur „Selbstrevision“ an. Diese Anklage entwickelt er zu einer poetologischen Gegenposition zu Herrndorf, zu einer Theorie des ‚spekulativen Realismus‘: Zum Begriff des literarischen Realismus sei Goetz die Idee gekommen, dass „der Realismus […], sich eben nicht einfach nur in der Faktizität dessen, was ist, erschöpft, sondern erst aus allen Möglichkeiten, die im Gegebenen mitgegeben sind, seinen Sinn bekommt. Der Auftrag wäre es, diesen Reichtum des Potentiellen spekulativ zu erschließen: spekulativer Realismus.“7

Die Wirklichkeit – oder: die Realität – bestimmt Goetz sowohl als das, was empirisch beobachtbar ist, wie auch als das, was die Imagination ins Beobachtbare projiziert. Zur Realität gehört für Goetz also auch die Fiktion. ‚Spekulation‘ bestimmt Goetz als ein Sich-Hineinversetzen des Beobachters ins Beobachtete. ‚Spekulativer Realismus‘ ist für ihn ein Versuch, alle potentiellen Deutungen der Wirklichkeit zu untersuchen, um im Möglichen die Vielfältigkeit der Wirklichkeit zu erschließen. Diese Theorie des ‚spekulativen Realismus‘ stellt Goetz in Opposition zu Herrndorfs ‚Leben in der Vorstellung‘.

Goetz versteht Schreiben als eine Widerspiegelung der Realität durch das schreibende Ich, und er betrachtet dabei die körperliche Präsenz des Schreibenden als Voraussetzung für eine sprachliche Darstellung. Diese Betrachtung führt zu einer poetologischen Position, die vom schreibenden Ich fordert, immer erst an der Realität teilzuhaben, bevor es versucht, sie sprachlich zu erfassen. Dadurch verbindet sich der ‚spekulative Realismus‘ mit der für Goetz’ Werk kennzeichnenden Gegenwartsemphase.8 Da er den Selbstmord als eine konsequente Absage an die Realität versteht, lehnt Goetz ihn aus poetologischen Gründen ab. Schreiben ist nach Goetz’ Poetologie der Gegensatz zum Tod, nämlich ein Beleben des Selbst und eine Anbindung des Ichs an die Realität und die Gegenwart.

Mit der Beschreibung eines zufälligen (und vielleicht fiktiven) Treffens an der Chausseestraße versucht Goetz die Auswirkungen von Herrndorfs „Todessehnsucht“ zu dokumentieren:

Etwa wenn ich denke, die rückwärtsgewendete szenische Spekulation, ob Wolfgang Herrndorf, der mir aus der Schlegelstraße heraus an der Ecke Chausseestraße gesenkten Kopfs und schnellen Schritts entgegenkommt, mich nicht sieht oder Angst hat, mir zu begegnen, weil so viel in ihm vorgefallen ist in letzter Zeit an Geist und Krankheit, Elend und Hoffnung, Todessehnsucht und immer noch Lebenmüssen, und er deshalb, weil vieles davon auch in seinem Blog zu lesen war, es deshalb nicht nur in ihm, sondern auch zwischen uns ist, so tut, als sehe er mich nicht, um nicht mit mir zu reden und dabei so zu tun zu müssen, als wäre das, was uns da trennt, nicht da, wo es doch eindeutig da ist usw.9

Das Leiden Herrndorfs verunmöglicht es ihm, Goetz zufolge, sich körperlich seiner Gegenwart zuzuwenden, um dort – in der Realität und nicht in der Vorstellung – Trost und Ermunterung zum Weiterleben zu suchen. Der Traum vom Nachruhm verleitet Herrndorf dazu, „die Hybris der Intellektualität gegenüber dem Körper“ zu begehen.10 Der Kampf gegen den eigenen kranken Körper wird zum Kampf gegen die eigene Person, und dieser Kampf entwickelt sich zu einer „Nicht-Souveränität des Ichs gegenüber dem Körper“.11

Goetz’ Theorie des ‚spekulativen Realismus‘ ist ein Plädoyer für eine Vergegenwärtigung des Körpers, also dafür, die Realität und deren Möglichkeitsreichtum buchstäblich mit den eigenen Augen anzuschauen, um genau hier mögliche Auswege aus dem individuellen Leid und der individuellen Isolation zu suchen. Nach Goetz’ Poetologie ist Herrndorfs Vorhaben, für die Nachwelt zu schreiben, unsinnig, weil sich das Schreiben für Goetz genau dagegen richtet und die Möglichkeiten des gegenwärtigen Lebens aufsuchen, ausprobieren und dadurch realisieren will. In diesem Sinn fordert Goetz vom schreibenden Ich Teilhabe an der Realität, um ihre Vielfältigkeit im Text präsent zu machen.

4
Gegen Abend radle ich nach Hause. Die Auseinandersetzung mit Leben, Schreiben und Tod auf meiner Radtour durch Berlin hat mich zum Weiterarbeiten inspiriert. Auf dem Weg durch Mitte taucht eine Stelle aus Goetz’ Klage in meiner Erinnerung auf: Aus einer Wohnung unweit der Chausseestraße singt er ein persönliches Lied über das Leiden und das Schreiben. In diesem Lied wird der Unterschied zwischen Herrndorfs und Goetz’ Ansichten über den Sinn des Schreibens nochmals deutlich:

I love my Leid, das Schreiben

I love the Schrift, die Resultate

I love the Bücher über alles, die dabei entstehen

I love to touch them and to hold them really tight

I love to love the books, the words, the SPRACHE

I love to be this alles, denn: this IS my life

oh yeah, this is, this is, this is: my life –12

Das Schreiben bringt Goetz Trost. Der Exmediziner weiß, dass Literatur nur als gelebtes Schreiben am Leben ist. Über den Tod kann keiner etwas Realistisches schreiben.

Vielleicht sind die „unsichtbare[n] Denkmäler“, die in fast jeder Berliner Nachbarschaft eine unauffällige Präsenz haben, als schweigende Kommentare auf den Tod errichtet worden. Und auch die Texte von Herrndorf und Goetz geistern noch in Wedding und Mitte herum. Zu Hause vor meinem Bücherregal stelle ich fest, dass literarische Nachbarschaften sich jenseits des Todes unterhalten lassen.

  1. Vgl. Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur, Berlin 2013, S. 443.
  2. Rainald Goetz: „Spekulativer Realismus“, in: Texte zur Kunst 93 (2014), S. 141.
  3. Herrndorf: Arbeit und Struktur (Anm. 1), S. 432.
  4. Herrndorf: Arbeit und Struktur (Anm. 1), S. 85.
  5. Herrndorf: Arbeit und Struktur (Anm. 1), S. 39.
  6. Vgl. u.a. Goetz’ Werke Abfall für alle (1999), Klage (2008) und elfter September 2010 (2010).
  7. Goetz: „Spekulativer Realismus“ (Anm. 2), S. 135, 137.
  8. Vgl. Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2003, S. 111–154.
  9. Goetz: „Spekulativer Realismus“ (Anm. 2), S. 137.
  10. Goetz: „Spekulativer Realismus“ (Anm. 2), S. 141.
  11. Goetz: „Spekulativer Realismus“ (Anm. 2), S. 141.
  12. Rainald Goetz: Klage, Frankfurt a.M. 2008, S. 345 f.

Weitergehen

Wedding

„Du fliehst also in den Wedding, weil du die renovierte Rosenthaler Vorstadt und den herausgeputzten Prenzlauer Berg nicht mehr aushältst. Verstehe.“

Pistole

Ich hatte keine Angst mehr vor ihm, wir hatten uns ausgesprochen, und für den Notfall trug ich immer meine Pistole bei mir.

Eingangsbereich

Heute gibt es stattdessen meist normierte Briefkästen im Eingangsbereich und eine Gegensprechanlage, die nicht zuletzt verhindern soll, dass Fremde sich unbefugt Zutritt zum Haus verschaffen.

Spandau

…Spandau in the North-West and Köpenick in the South-East, both once founded as hill-forts by the Slavic tribes living here in the 6th century AD.

Isolation

Though perhaps lonely in splendid isolation, it’s thrived as long as I’ve known it.

Radtour

Sie gab den Takt meiner Tritte vor, jede Radtour wurde zum Tanz.

Alltag

… Alltag in Berlin ;)

Kitsch

…es war angenehmer Kitsch, dessen unbezahlbaren Wert sie nicht in Geld ausgedrückt wissen wollte, den sie aber als Schadenersatzleistung in Form einer Freude, die in der Welt da draußen nicht mehr umsonst war, bemerkenswert fand…

Ufer

Das Café Anderes Ufer in der Hauptstraße in Schöneberg, das SchwuZ in der Kulmer Straße 20a…

Schiff

Als wir in Sydney waren, machten Herr Tiberius und ich häufig Ausflüge mit dem Schiff durch Sydney Harbour…

Wirklichkeit

Helene hat das Gefühl, in ihren Augenwinkeln eine Art Nebel zu erkennen, der ihr ein Gefühl von Entfernung zur Wirklichkeit gibt.

Mitte

Der erste deutsche Roman mit einer Straße im Titel ist Wilhelm Raabes Die Chronik der Sperlingsgasse von 1857, deren reales Vorbild, die Spreegasse in Mitte, 1951 zu Raabes Ehren in „Sperlingsgasse“ umgetauft wurde.

Tod

Auf den ersten Blick hat das nachbarschaftliche Gespräch wenig Bezug zur Vorliebe für Münzen, obwohl der Titel „Nachbarin, Tod und Solidus“ durch das Bindeglied „Tod“ eine Verknüpfung suggeriert.

Unsichtbarkeit

Die räumliche Verschiebung von der osteuropäischen Peripherie in das westeuropäische Zentrum erfolgt in der Spannung eines Paradigmas der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit.

Müllerstraße

Die dritte Wand war kalt. Sie war so lang wie die ganze neue Wohnung. Viele Meter Flur und dann die Stube. Alles Brandwand Richtung Müllerstraße. Man musste für das Wetter nur an die Tapete fassen.

Herrndorf

Und der Rahmen hat Namen, in den Worten Herrndorfs: Arbeit und Struktur, in den Worten Virginia Woolfs: a room of one’s own.

Liebe

Ich suchte Zärtlichkeit und Sex, um endlich die Liebe kennenzulernen.

Nachwelt

Knapp zehn Jahre zuvor hat Wolf Biermann anlässlich des an Brechts letztem Wohnort gegründeten Archivs eine Begegnung des nicht tot zu Kriegenden mit Nachwelt und Nachlass zum Gegenstand eines Gedichts gemacht.

Chausseestraße

Die Liste der Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die zu Zeiten in und um die Chausseestraße herum gewohnt haben, ist lang.

Des Nachbars Unglück ist uns nur ein Traum.

Wander, Deutsches Sprichwörter-Lexikon, 1873

Über das Projekt

Die Anthologie NACHBARSCHAFTEN, herausgegeben von Christina Ernst und Hanna Hamel, ist eine Publikation des Interdisziplinären Forschungsverbunds (IFV) „Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur“ am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Seit 2019 erforscht das Projekt das Phänomen der Nachbarschaft in der Gegenwartsliteratur und bezieht dazu Überlegungen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen mit ein. In der im November 2020 online gestellten Anthologie können Leser*innen durch aktuelle Positionen und Perspektiven aus Literatur und Theorie flanieren, ihre Berührungspunkte und Weggabelungen erkunden und sich in den Nachbarschaften Berlins zwischen den Texten bewegen.