Auf den letzten Metern wolle sie nicht noch Stress kriegen, sagte die Frau, als ich sie fragte, was mit den Spielfiguren im Schrank geschehen solle. Ich kam auf ein Inserat bei Ebay Kleinanzeigen, um eine Vitrine abzuholen, die sie verschenken wollte. Ihr Vater war gestorben, sie hatte nur eine Woche, seine Wohnung zu entrümpeln. Unten im Sprinter warteten mein Mann und ein Freund auf meinen Anruf.
Der Schrank sei ja gute deutsche Wertarbeit aus den 1940ern, die sie in guten Händen wissen wolle.
Ich nickte. Die Vitrine war perfekt, nicht zu groß, Vollholz und sachlich. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass die Plastikfiguren darin Wehrmachtssoldaten darstellten und in lebhaften Szenen gruppiert waren. Ich sah an der Art, wie die Frau zwinkerte und den Kopf wegdrehte, dass ihr das unangenehm war, sie hatte es nicht geschafft, den Schrank noch schnell auszuräumen.
Etwas abseits, beinah versteckt, erkannte ich einen Mini-Hitler. Er war in die Kriegsschauplätze nicht eingebunden und stand da wie ein verlassener, erinnerter Geist aus der Ferne. Die Frau bat mich, mit ihr gemeinsam die Figuren nach hinten in eine andere Vitrine zu tragen, dabei versuchten wir die Anordnungen nicht durcheinanderzubringen, denn ihr Vater habe nicht nur alle Figuren in jahrelanger, mühsamer Kleinarbeit selbst modelliert, sondern auch, aus dem Gedächtnis, erlebte Kriegsmomente nachgestellt. Zuerst dachte ich an eine Therapie: Ein traumatisierter Wehrmachtssoldat stellt sich seinen Erinnerungen. Aber war der Führer dafür nicht zu klein geraten?
Als sie schon mit dem nächsten Tablett nach hinten gegangen war, platzierte ich heimlich den davidartigen Hitler in einer Szene neben den goliathhaften Funker und erlebte die Millisekunde einer Satire.
Hektisch schoss ich einige Fotos und überlegte dabei, ob ich den Hitler in meinem Ärmel verschwinden lassen sollte, doch dann stellte ich ihn solo aufs Tablett und trug ihn durch den Flur ins Schlafzimmer.
Die Frau blickte mich verwundert an, warum ich nur die eine Figur bringe. Sie sagte nicht mal „nur den Hitler“, sie sagte „nur eine Figur“.
Und ich antwortete, dass diese Figur allein stand und offenbar zu keiner Szene dazugehörte und dass ich die Arrangements auf keinen Fall verwechseln wollte.
Sie seufzte, schob den Hitler im Regal ganz nach hinten an die Wand und verließ den Raum Richtung Wohnzimmer.
Als ich mich umsah, verstand ich, dass hier ein Gläubiger der nationalsozialistischen Versprechungen und Verehrer des deutschen Militärs gestorben war, dessen Familienmitglieder bereits hochrangige Diener in der preußischen Armee sowie später auch in der Bundeswehr gewesen waren. Nun stand ich in einem Arsenal an Wehrmachts-Devotionalien. Seine Enkelin hatte ihm zum 80. Geburtstag noch ein Hakenkreuz geschenkt, das sie aus schwarzen und goldenen Pailletten auf Styropor geklebt hatte.
Ich rief meinen Mann an, sagte ihm, dass wir die Vitrine jetzt in den Sprinter bringen könnten. Kurz darauf klingelte er an der Haustür. Natürlich wusste ich, dass ihm die Augen herausfallen würden. Als die Frau fragte, woher sein Akzent stamme, sagte er: „Israeli“. Er sagte „Israeli“ und nicht „Jude“.
Sie sagte: Dass sie ihn gern durch dieses Museum führe, aber auf den letzten Metern nicht noch Stress haben wolle.
Diese letzten urteilsfreien Meter bis zur endgültigen Beisetzung des Vaters, und die restlichen bis zu seiner Verwesung und vollkommenen Entfleischlichung und damit seiner Unantastbarkeit. Vielleicht hatte sie ein schlechtes Gewissen, vielleicht aber fühlte sie auch nichts. Jedenfalls schenkte sie uns einen ausführlichen Blick in die Sammlung ihres Vaters. Den Blick in das Herz eines hypersentimentalen Menschen.
Ich habe aus seinem Blickwinkel mehr gesehen, als mir jedes Geschichtsbuch vermitteln kann. Ich verstand nun, warum der Hitler bei ihm so klein geraten war. Nicht der Führer war ihm wichtig, sondern diese neue Zukunft, die ihm versprochen worden war, diese utopische Identität, diese Größe, dieses Auserwähltsein, diese Gottgleichheit. Ihm jedenfalls ging es nicht gegen etwas oder gegen jemanden, er sammelte keine Hass-Botschaften, auch keine rechtsextremen Zeitungen, es ging ihm nur um sich selbst. Er oder dieses neue Selbst war das Geschenk, das die Moderne den neuen Menschen versprochen hatte: dieses neue psychologisierte und sublimierte Ich, das nach Definition und Geltung in der bösen, kalten, dummen Welt suchen muss. Um diesen neuen Sockel für einen neuen Helden der neuen Menschheit ging es in seiner Sammlung, den die nationalsozialistische Arbeiter-Utopie der verarmten, gekränkten deutschen Sachlichkeit versprochen, aber nicht hervorgebracht hatte, dessen Funkeln ihn aber geblendet und blind gemacht hatte für die nationalsozialistische Wirklichkeit, den er deshalb immer noch vehement für sich beanspruchte und für den er immer noch und ohne zu zucken töten würde, wenn jemand versuchte, ihm den streitig zu machen. Von seinem intakten Waffenarsenal, einschließlich intakter und gereinigter Uniformen, will ich jetzt nicht auch noch anfangen.
Vilém Flusser schreibt: Die Welt ist das Alphabet, das wir entziffern. Die Wohnung ist das Alpha und das Omega, wir wohnen. Der Mensch wohnt eher, als dass er lebt. Hier, in dieser Charlottenburger Wohnung, erlebte ich die Arbeit dieses Programms des Wohnens und nicht des Lebens, wie sehr es seine widersprüchlichen Wahrheiten, seine persönlichen Ansprüche um eine veränderliche, veränderte und nun gnadenlos konträre Außenwelt herumcodieren und verschnörkeln musste, damit sein zweisäuliges Weltanschauungssystem aus Heim und Welt nicht abstürzte. Diese verzierte Hübschheit und diese Sentimentalität, die das Andächtige in den vielen Andenken betonen sollten, dampften aus allem, wo kalte Ideologie nicht zulangen konnte, aber wärmende Gläubigkeit entstehen sollte.
In der Küche angekommen schenkte die Frau uns noch seine Gläser, alle vergoldet, alle Prunk.
Sie sagte, sonst müsse sie sie wegwerfen, das wäre schade und sie würde sich freuen, wenn sie jemandem noch Freude machten. Die Freude artikulierte sie so, als wollte sie sagen: wenn sie damit noch jemanden entschädigen könnte. Jemanden, der übrig geblieben ist. Der selbstsüchtige Goldrand, der seinen Besitzer adelt, war zwar nicht der heilige Kelch des letzten Abendmahls, den die panbabylonische arische Fangemeinde damit den Juden symbolisch zurückerstattete, aber es war angenehmer Kitsch, dessen unbezahlbaren Wert sie nicht in Geld ausgedrückt wissen wollte, den sie aber als Schadenersatzleistung in Form einer Freude, die in der Welt da draußen nicht mehr umsonst war, bemerkenswert fand und mit einer Opferleistung gleichsetzte.
Ich weiß nicht, ob sie mir die Gläser geschenkt hätte, wenn mein Mann nicht Israeli gewesen wäre. Schamlos staubten wir dann noch zwei weitere Vitrinen sowie allerlei Kuriositäten aus der Sammlung ihres Vaters ab. Gerade wollten wir mit unserer Kriegs-Beute die Wohnung verlassen, da entdeckte ich im Papierkorb neben dem Küchentisch eine Kiste aus Plexiglas mit einem ausgestopften grünen Wellensittich darin.
„Wer ist das?“, fragte ich.
Sie sagte: „Sein Putzi.“ Sein Putzi. Als er starb, habe er ihm so leidgetan, dass er ihn ausstopfen ließ. Und jetzt lag er da im Küchenmülleimer.
Und ich dachte nur: Was wäre passiert, wenn ihm nur die sechs Millionen Juden leidgetan hätten oder leidtun hätten dürfen? Was hätten wir heute? Vielleicht ein Lovecraft’sches Yad Vashem wie ein morbides Naturkundemuseum: mumifizierte oder plastinierte Shmuels, Hannahs, Moshes oder Sarahs nach der Vergasung nun lebensecht und in Lebensgröße und kilometerlang in Reihe aufgestellt und begehbar, verlebendigt hinter stehenden Plexiglas-Särgen. Lag in diesem Küchenmülleimer etwa der einzige, wenn auch winzige, der letzte erlaubte Rest, ein volatiler Funken an Empathie angesichts des Todes einer Kreatur? Empathie, zu der sogar maschinisierte, nach-neuer-Weltordnung-süchtige Extremisten und Ideologen fähig zu sein schienen? Na gut, dieser Funken war bloß ein flüchtiges Blitzen, das in diesem grünen Wellensittich eingefangen wurde, aber aus jedem Funken kann man Feuer machen. Brachte Putzi womöglich einen weiteren Schlüssel zum Schattenreich nationalsozialistischen Grauens?
Die Frau verstand nicht, was ich mit einem toten Vogel wolle, aber wenn er mir halt gefiele, dann könne ich ihn ruhig mitnehmen.
Ich klemmte ihn mir unter den Arm. Putzi war optisch nichts gegen die prunkvollen Glaskelche oder die glitzernden Pailletten, aber diese Hammer-Symbolik, diese Liebesbezeugung, die diesem gewöhnlichen gefiederten, vergleichsweise paradiesvogelunähnlichen Wesen anhaftete, erzeugte dieses paradoxe Moment, das jedes Ding in einem einzigartigen Licht erscheinen lässt. Und der Tod dieses Vogels war doch die Verlebendigung dieser Botschaft.
Zu Hause wienerte ich die Plexiglasbox, betrachtete den Sittich und stellte ihn vorläufig auf die Vitrine, die wir zeitweilig im Schlafzimmer lagerten. Sie war nur 1,40 m hoch und für unsere zwei Katzen leicht zu erreichen. Ich schloss die Tür und die zweite Tür zu Küche und Wohnbereich, an der wir vor Jahren extra einen runden Knauf angebracht hatten, damit die Katzen sie nicht öffnen konnten.
Ich wollte den Vogel so schnell wie möglich in Sicherheit, in mein Studio außerhalb der Stadt bringen. Aber am nächsten Tag hatte ich erst noch einiges in der Stadt zu erledigen. Natürlich hatte ich beim Verlassen der Wohnung die Zwischentür geschlossen. Aber als mein Mann anrief, dass er eben zu Hause war, weil er dachte, mich anzutreffen, fürchtete ich, dass er in die hinteren Zimmer, vielleicht auch ins Bad gegangen sein könnte, dabei vielleicht wieder am Telefon und abgelenkt gewesen war und wahrscheinlich die Zwischentür offenstehen gelassen hatte. Da sah ich die Katzen mit Putzi schon Fußballspielen oder ihn in Stücke reißen, so wie die beiden in unserem Wintergarten verirrte kleine blaubäuchige Singvögel gerupft und verspeist hatten.
Mein Mann sagte, er glaube, er habe sie geschlossen, aber er sei sich nicht sicher.
Ich verschob meinen Termin und nahm die nächste U‑Bahn nach Hause, rannte vom Nollendorfplatz bis zum Landwehrkanal. Ich dachte, Putzi, nein, dieser winzige Funken Empathie, brauchte einen hohen Sockel, mindestens zwei Meter hoch, gedimmtes Licht, einen leeren Raum, am besten im Jüdischen Museum, als neues Lovecraft’sches Dauer-Exponat, das den Besucher in dieselbe paradoxe Verzweiflung stürzen soll angesichts der Frage: Was, wenn Putzis Herrchen sechs Millionen Juden leidgetan hätten? Titel des Ausstellungsstücks: Der Nazi-Putzi. Und diese Geschichte als Handout zum Nachlesen.
Im Fahrstuhl nach oben kamen mir die Katzen aus Spiegelmans Maus in den Sinn, nur dass Putzi kein Jude war, er war nur die naive Liebe eines nationalsozialistischen Gläubigen, und meine Katzen waren keine Nationalsozialisten, sie stammten aus Brandenburg und verstanden Hebräisch. In eine absurde Lage habe ich sie alle gebracht, denn keiner der drei konnte aus seiner Haut. Der Nationalsozialismus aber war kein angeborener Trieb, auch wenn er Überlebenden wie Spiegelmans Vater so vorgekommen sein musste, er war leider nur eine quasi-religiös-ideologische Überzeugung, die man ändern, eine Kirche, aus der man austreten kann.
Als ich die Tür aufschloss, sah ich schon, dass die Zwischentür nicht offenstand. Dafür hatte ich einen Termin verschoben. Ich fragte mich, was ich mit Putzi eigentlich zu retten versuchte.
Weitergehen
Foto
Nike quiekt, als sie das Foto sieht, auf dem sechs Knopfaugen aus drei Fellchen hervorlugen.
Flur
In einer Winternacht wurde oben über den Flur gerannt, wurden Fenster aufgerissen und Türen. Wieder bat ich um Rücksicht.
Schlafzimmer
…ein Badezimmer mit weißen Kacheln und weißer Wanne, ein Wohnzimmer mit Mid-Century-Möbeln, Schallplatten und Gemälden an den Wänden, ein Schlafzimmer, in dem nichts außer ein weiß bezogenes Doppelbett stand…
Armee
…mit William Gardner Smith, der seine Erfahrungen als kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin stationierter Soldat einer nach ‚Rassen‘ segregierten US-Armee fiktionalisiert in seinem Roman The Last of the Conquerors (1948) verarbeitete…
Haustür
Sie lernen andere Hunde vor der Haustür kennen und beschnuppern sich gegenseitig an den intimsten Stellen…
Jude
„Was bedeutet diese Kette?“, habe ich gefragt. „Dass ich Jude bin“, hast du geantwortet.
Vater
Die Tür öffnet sich auf eine gegenstandslose himmelblaue Fläche. In der Mitte steht eine schwarzhaarige Familie (Mutter, Vater, Kind), um sie herum eine hellhaarige Familie (ebenfalls Mutter, Vater, Kind).
Geschenk
Eine Silberkette oder Ohrringe sind immer ein gutes Geschenk.
Wohnen
Interessiert man sich zunächst für die in den Texten verhandelten Formen von Nachbarschaft im engeren Wortsinn – begreift Nachbarschaft also als eher zufällig zustande gekommenes Verhältnis des Wohnens in räumlicher Nähe…
Gold
Arzt und Patient sind beide an Gold interessiert, wofür sie in Kauf nehmen, zu sterben/töten, während der einer Legende zufolge schlaflose Kaiser mit dem Mond bzw. der Mondgöttin verbunden wird.
Tod
… es geht um Tod und Mord, um Gentrifizierung und Obdachlosigkeit, um häusliche Gewalt und Kindesmissbrauch…
Katze
Ich habe mal ein Buch über eine Frau gelesen, die den Tod ihrer Katze betrauert, seitenlang, bis der Leser irgendwann dahinterkommt, dass die tote Katze bloß eine Einbildung der Frau ist.
Nazi
an der kreuzung nebenan gibt es 2 türkische möbelläden, wo man geld umschlagen kann, in meinem haus wohnt ein nazi…
Landwehrkanal
Still, up until I began preparing to make notes for this essay, in the 16 years of being an inner-city resident, I had been beyond the canal only twice.
Identität
Umso mehr erscheint sie als ‚Nächste‘: als Alter Ego des Protagonisten, in untrennbarer Nähe zu seinem Ich, dessen Identität in diesem Roman durchweg zur Debatte steht.
Tablett
Während Lein in Loop spricht „Help me please, help me please, I’m dying, I killed myself“, bietet St. Louis auf einem goldenen Tablett die Pralinen an.
Kitsch
Die „Waffe“ und der zu ihr gehörige Kitsch blockieren das Hinsinken, ein Lernen, das möglich wäre bis zum Schluss.
Küche
Die Toiletten auf dem Gang. Die Duschen in der Küche. Die Ofenheizungen, die nachts die Kraft verließ und einen frierend aufwachen ließen. Sowieso, Kälte.
Feuer
Ich weiß nicht, wo in den Zwischenräumen zwischen den Wohnungen das Feuer brennen soll, weil in den Zwischenräumen trotzdem noch Wandmaterialien festgebaut sind.
Enkel*in
Genauso stolz ist Dorina auf ihre Enkel, besonders auf Raul, in der Altersklasse der Grundschüler ist er einer der besten Boxer.
Nationalsozialismus
Während ich in den Arbeitspausen durch Pacific Palisades oder benachbarte Stadtteile wie Brentwood lief oder fuhr, die Villen ehemaliger deutscher Exilanten aufsuchte, die vor dem Nationalsozialismus geflohen waren, […] überlegte ich, unter welchen Bedingungen eine Garage oder ein Wohnzimmer mythisch werden kann.
Zukunft
Hier in Berlin gibt’s bald keine Kunst und Zukunft mehr.
Dem die Nachbarn übel gerathen sind, der muss sich selbst loben.
Wander, Deutsches Sprichwörter-Lexikon, 1873
Über das Projekt
Die Anthologie NACHBARSCHAFTEN, herausgegeben von Christina Ernst und Hanna Hamel, ist eine Publikation des Interdisziplinären Forschungsverbunds (IFV) „Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur“ am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Seit 2019 erforscht das Projekt das Phänomen der Nachbarschaft in der Gegenwartsliteratur und bezieht dazu Überlegungen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen mit ein. In der im November 2020 online gestellten Anthologie können Leser*innen durch aktuelle Positionen und Perspektiven aus Literatur und Theorie flanieren, ihre Berührungspunkte und Weggabelungen erkunden und sich in den Nachbarschaften Berlins zwischen den Texten bewegen.