Einer wartet im Dunkeln darauf, dass alles vorbei ist.

Einer lässt seinen Blick wandern, so weit es geht. Es geht nicht weit. Der Blick flieht zurück in den Kopf von einem, einer, der die Augen schließt.

Einer denkt, dass es alles schon nicht so schlimm sein wird, ein anderer glaubt es. Und ein dritter weiß, dass es alles nicht so schlimm sein wird.

Eine ist eine Katze und kratzt sich mit der Zunge über das Fell. Hinter ihr steht eine Frau.

Einer trägt einen Sack voll Güter zum Mülleimer.

Eine sitzt an einem Holztisch und isst Suppe aus einem tiefen Teller. An der Wand dreht sich eine Uhr, die Zeiger stehen still. Einer, der das sieht, denkt über die Metapher nach.

Einer, der das sieht, ruft gegen sein Fenster und alles was er sieht, hört nichts, sieht nur eine beschlagene Scheibe. Einer, der das sieht, ruft zurück. Und einer, der das sieht, ruft zurück.

Eine denkt an einen See in der Schweiz. Sie denkt an das Wasser in dem See, das so sauber ist, dass sie es trinken könnte.

Eine raucht am Fenster und folgt ihren Gedanken.

Einer blättert in einem Magazin. Auf einer Seite ist eine Frau abgebildet, die er gerne kennenlernen möchte. Er überlegt, wie sie heißen mag. Er glaubt, dass sie Martina heißen könnte, in Wirklichkeit heißt sie Noelle.

Eine macht ein Foto von sich und betrachtet dann ihre Haut auf dem Foto. Sie überlegt hin und her. Dann speichert sie das Foto und geht ins Bad.

Einer holt sich ein Glas Wasser aus der Küche und drückt drei Tabletten aus einem Blister. Bevor er die Tabletten in den Mund steckt, zögert er einen Moment. Er findet, dass er eigentlich zu jung ist. Dann schluckt er die Tabletten.

Eine liest Zeitung und blättert alle paar Minuten. Sie liest den Sportteil, den Wirtschaftsteil und das Feuilleton. Die Todesanzeigen überblättert sie geschickt. Sie erwartet zwar keine bekannten Namen, aber sie ist lieber vorsichtig. Wenn sie über den Friedhof geht, sucht sie nach dem Grab der jüngsten Person auf dem Friedhof. Das macht sie besonders betroffen. Sie denkt nicht in Wörtern. Sie denkt nicht „so jung“. Aber es fühlt sich schwerer an als die anderen Gräber. Todesanzeigen fühlen sich nicht schwer genug an für das, was sie sind, findet sie.

Einer zieht sich so umständlich seine Schuhe an, dass er zweimal umfällt. Dann bindet er seine Schnürsenkel zu, wie es Kinder machen. Er verknotet zwei Hasenohren. Sein Bruder hat es ihm gezeigt, vor 50 Jahren. „Du machst zwei Hasenohren und verknotest sie“ hatte der gesagt. Seitdem stellt er sich beim Zubinden seiner Schuhe jedes Mal einen Hasen vor, der verknotete Ohren hat. Und jedes Mal muss er lachen, bevor er hinfällt.

Einer kommt nach Hause, nachdem er mit einem Riesenrad gefahren ist. Von oben sieht die Stadt gleichzeitig größer und kleiner aus, findet er. Ganz oben hat er kurz geweint, ganz ohne zu wissen, weshalb.

Eine ist Polizistin und trägt eine Waffe. Vor dem Spiegel übt sie Verbrecher Festnehmen. Sie ruft ihrem Spiegelbild zu, dass es bloß keine Faxen machen soll, dass es ruhig bleiben soll, dass es sich vermutlich nicht gedacht hätte, dass ihm jemand auf die Schliche kommen würde, dass es das nun davon habe, dass Verbrechen sich nie auszahlen würde, dass es es doch eigentlich besser wissen solle, dass es schließlich erwachsen sei, dass es sich hinlegen solle. Das Spiegelbild befolgt die Anweisung der Polizistin.

Einer heißt David und zündet eine Kerze an. Dass es Goethes Geburtstag ist, weiß er nicht.

Im Fenster von einem steht ein Schofarhorn auf einem Sockel aus Marmor. Geblasen wird es nicht, denn es steht dort nur zu dekorativem Zweck.

Einer beobachtet.

Einer übt ein Stück auf der Geige.

Eine arbeitet bei Edeka an der Kasse und versorgt alle Nachbarn mit Brot, Käse und anderen Lebensmitteln. Für einige zieht sie Waren am Scanner vorbei, für einen blonden Jungen, der sehr dünn ist, für eine kurdische Frau, für einen, den sie nicht kennt, der aber so aussieht, als würde sie ihn gern kennenlernen. Auch für andere. Der, den sie gern kennenlernen würde, merkt es nie, jedes Mal bezahlt er wieder etwas weniger, aber er merkt es nie.

Bei einer kommen viele Gäste, jeden Tag ein paar. Weder geschäftlich noch privat. In ihrem Wohnzimmer steht ein Terrarium, in dem sich ein Biotop selbst verwaltet. Ihre Gäste kommen und gehen in kleinen Gruppen, auch sie versorgen sich selbst.

Auf einem Sofa liegt einer und verarbeitet. Es ist nicht in Worte zu fassen, was er gesehen hat. Es ist nicht mal in Bilder zu fassen. Er versucht es trotzdem. Da ist der Unfall, das Verbrechen, die Gartenfeier, seine Mutter, das Geschenk, ein Urlaub, ein Rätsel. Langsam nimmt sein Leben Gestalt an, auf einem Sofa, die Augen nach innen gerichtet, beobachtet von außen.

In einem Wintermantel steht eine vor dem Spiegel und besucht ihre Erinnerung. Ihre Sommerkleidung liegt in Plastiksäcken auf dem Bett hinter ihr. Sie klopft etwas Staub vom Mantel, den sie aus Versehen einatmet. Ihr Spiegelbild sieht älter aus als letztes Jahr um die gleiche Zeit. Sie weiß, dass nur der Mantel älter aussieht, aber sie fühlt es nicht.

Eine hat sich das Bein gebrochen und dann den Hitchcock-Film mit der schreienden Frau unter der Dusche geschaut. Sie hat ihn dann noch sieben Mal angeschaut und sich danach ans Berliner Fenster gesetzt und gewartet. Ein Freund hat ihr einen Topf Gulasch und Ferngläser gebracht, sie sitzt am Fenster und wartet. Nach einigen Tagen ist ihr wieder langweilig. Sie hat, dämmert es ihr, gar nicht den falschen Hitchcock-Film gesehen, sondern sich das falsche Fenster ausgesucht.

Im Hof fegt einer die rostigen Kastanienblätter zusammen. Er vermisst mit einem Rechen den Innenhof. Er streichelt mit einem Rechen die aufgesprungenen Betonplatten. Er zieht, mit einem Rechen, unsichtbare Spuren auf den Stein. Er pflügt mit einem Rechen den Acker der Großstadt. Er … er arbeitet. Ich bringe Kaffee.

Ich schreibe ein paar Sätze, dann gehe ich in die Küche. Dann schreibe ich ein paar Sätze und dann lege ich mich hin. Dann gehe ich ins Bad, schreibe ein paar Sätze, mache zwei Liegestütze, trinke Kaffee, trinke Cola und schreibe ein paar Sätze. Ich schaue aus dem Fenster.

Eine hat einen Wasserschaden und deshalb regnet es bei einem in der Wohnung. Er hat Plastikeimer in der Wohnung verteilt und durchschreitet mit einem Regenschirm die Wohnung in allerlei Richtungen. Tapete hängt von der Decke, seine Frau schreit, sie hat keinen Schirm. Eine, die einen Wasserschaden hat, rennt durch das Treppenhaus, als ob sie wüsste, wohin.

Einer trägt große Abfallsäcke in den Keller, was die Frau im Berliner Fenster nicht sehen kann. Etwas Schweres, ja, aber sicher keine Leichen.

Eine hört den Wind aufziehen und streckt ihren Kopf aus dem Fenster, sie hat ihre Augen geschlossen und versucht mit der Nase den Wind einzufangen.

Einer schmeißt etwas Müll in den Hof.

Weitergehen

Blick

Den Blick zur Decke gerichtet, verfolgen wir die Geräusche in der oberen Etage.

Wasser

Frank Korsson bat mich, an einem kleinen schwarz gestrichenen Biertisch Platz zu nehmen, bot mir Kaffee oder Wasser an, und setzte sich, als ich nichts davon verlangte, zu mir.

Geschenk

Er oder dieses neue Selbst war das Geschenk, das die Moderne den neuen Menschen versprochen hatte: dieses neue psychologisierte und sublimierte Ich, das nach Definition und Geltung in der bösen, kalten, dummen Welt suchen muss.

Schweiz

Kaminski könnte ja auch ein junge polnische Erasmus-Studentin sein, Yilmaz ein Schweizer Fußballer und Peters ein amerikanisches Künstlerpaar.

Wirklichkeit

Der (semantische) Zusammenhang von „Straßen“, „Blumen“, „Frauen“ und „Bewunderer“ liegt dem Gedicht nicht voraus – weshalb dieses auch kein Gedicht „über“ eine andere, ihm äußerliche Wirklichkeit sein kann…

Wohnzimmer

…ein Wohnzimmer mit Mid-Century-Möbeln…

Fenster

Ihm aus dem Fenster nachzusehn wie von Bäumen

Müll

Neben den Mülltonnen türmte sich Abfall, Bauschutt, Steine, Stroh und Holzbalken.

Zeitung

…that’s why I’ve never owned plants or pets or a newspaper subscription.

privat

Die Vorgärten sind Rückzugsraum und Bühne zugleich, als Bereich zwischen Wohnung und Straße, Haus und Stadt beleben sie das Private wie das Öffentliche.

Keller

Er klagte, sein Keller sei ungerecht klein, und fragte, ob er in meinem größeren Keller, den ich kaum nutzte, vorübergehend ein paar Handwerksgeräte abstellen könnte.

Kinder

Nun rannten die Kinder und der Hund um die Wette über den langen Wohnungsflur.

Metapher

Zum anderen bin ich mit der Metapher des Kapitalismus als Raubtier aufgewachsen, dessen ausbeuterischer bis mörderischer Charakter keiner wünschenswerten Gesellschaftsform entspricht.

Kaffee

Wir trinken Kaffee aus der Thermoskanne, die ich mitgebracht habe, und essen Apfelkuchen, den Isabelle im Wedding gebacken hat.

Wasserschaden

Die zahlte für den Wasserschaden in meinem Bad und im hinteren Zimmer.

Verbrechen

Would a five-year-old ever understand the full significance of his crime?

Sofa

Die Kommoden und Sofas waren bei Auktionen für einen Spottpreis verkauft worden.

Geburtstag

…die gute Seele des Hauses, die die Pflanzen goss, am Geburtstag der Kinder einen warmen Kuchen auf unsere Fußmatte stellte und Anfang Dezember Girlanden mit kleinen blinkenden Weihnachtsmännern auf ihren Balkon hängte.

Ohr

Du hast zum Beispiel gerade am linken Ohr etwas zu viel abgeschnitten. Das muss dir doch aufgefallen sein.

Grab

Um das Grab wiederzufinden, legte ich ein paar Muscheln aus dem Griechenlandurlaub darauf.

Mutter

Der Dramatiker Werner Schwab habe erzählt, dass er, in einem Souterrain aufgewachsen, immer nur die Beine der Passanten gesehen habe, wenn er alleine zu Hause auf seine Mutter wartete, nie die Gesichter.

Geige

Das Mädchen hat den Geigenkasten waagerecht abgestellt, um sich den Schuh zuzubinden. Zumindest nehme ich an, dass in dem Kasten eine Geige ist.

Rätsel

…läuft auf einen Showdown hinaus, der schließlich auch stattfindet, an dem sich die Rätsel aber nicht lösen, sondern in einer für Kleins Erzählungen charakteristischen Weise bis zur Unentwirrbarkeit weiter verdichten.

Bruder

„Warum ziehst Du in die Vergangenheit?“, fragte mein Bruder, und eine junge Autorin trat einen halben Schritt zurück, musterte mich abschätzig: „So alt wirkst Du doch nicht. Hast Du mit dem Leben abgeschlossen?“

Friedhof

Der Dorotheenstädtische Friedhof an der Chausseestraße, auf dem nicht nur Hegel und Fichte, Brecht und Heiner Müller begraben sind, […] galt schon zu DDR-Zeiten als „Prominentenfriedhof“.

Der Brodgelehrte verzäunet sich gegen alle seine Nachbarn, denen er neidisch Licht und Sonne mißgönnt, und bewacht mit Sorge die baufällige Schranke, die ihn nur schwach gegen die siegende Vernunft vertheidigt.

Friedrich Schiller, Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, 1789

Über das Projekt

Die Anthologie NACHBARSCHAFTEN, herausgegeben von Christina Ernst und Hanna Hamel, ist eine Publikation des Interdisziplinären Forschungsverbunds (IFV) „Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur“ am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Seit 2019 erforscht das Projekt das Phänomen der Nachbarschaft in der Gegenwartsliteratur und bezieht dazu Überlegungen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen mit ein. In der im November 2020 online gestellten Anthologie können Leser*innen durch aktuelle Positionen und Perspektiven aus Literatur und Theorie flanieren, ihre Berührungspunkte und Weggabelungen erkunden und sich in den Nachbarschaften Berlins zwischen den Texten bewegen.