15:39
A
Mit der Maske rieche ich gar nicht den spezifischen Duft des U‑Bahnhofs, meines U‑Bahnhofs. Neben uns nölt ein müdes Kleinkind: „Duu-duu!“
B
„Na Mensch, drei Minuten. Da brauch ich ja gar nicht lange warten“, sagt ein Mann, der hinter uns langgeht. Er schnattert mit einem anderen Mann, der eine höhere Stimme hat als er selbst. Neben uns spielt eine Mama mit ihrem Kind im Kinderwagen. Man kann nicht ganz sagen, ob die Laute, die das Kind ausstößt, Lachen oder Weinen sind.
C
Ein Kind weint und jammert in der Nähe. Bernauer Straße. Gelbe quadratische Fliesen. Hmmh, circa 40x40cm an der Wand? Kein schönes Gelb. Es gibt tatsächlich sehr viel schönere U‑Bahn-Stationen in Berlin als diese.
D
„Na, Mensch. Timing. Drei Minuten“, sagt jemand. Ein Kind quengelt: „Tutut.“ Viel Stimmengemurmel. Was will das Kind wohl? Die Mutter zählt, das Kind wirkt glücklicher.
E
Wir sitzen auf Plätzen, die tatsächlich zum Sitzen vorgesehen sind. Das hatten wir auch noch nicht oft: Sitzgelegenheit als Schreibgelegenheit. Eine junge Frau geht neben mir in die Hocke und versucht ihr Kleinkind im Kinderwagen zu amüsieren – mit wechselndem Erfolg. Kichern geht immer wieder in Quengeln über.

15:40
A
Ich setze die Maske ab und rieche hin: süßlich. Spezifisch für hier, genau hier. Es könnte das Reinigungsmittel sein, mit dem die Böden gewischt werden.1 Das Kind heult. Hoffentlich kommt gleich die Bahn. Das Kind lacht. Die Mutter zieht es an den Beinen im Kinderwagen im Kreis. Männer sprechen mit lauter Stimme. Noch eine Mutter mit noch einem Kleinkind.
C
Diese U‑Bahn-Station gehört jedoch zu meinen nächsten. Entweder diese oder die andere. U8. Die Ader quer durch die Stadt. Vom Norden in den Süden. Zu DDR-Zeiten raste sie unter Ost-Mitte einfach durch. Aber ok.
D
Ein Mann unterhält sich, hat aber dicke Kopfhörer auf. Hört er auch Musik, und wenn ja, was für welche? Die Bahnen kommen in 1 Min. und 2 Min. Es werden mehr Leute und es wird auch lauter. Ich glaube, ich höre schon die U‑Bahn.

15:41
A
Ich richte den Blick geradeaus und lasse ihn über die hellgelben Fliesen streifen. Sie sind quadratisch, etwa 25 auf 25 cm. Die U‑Bahn kommt. In ihrem anderen Gelb.
B
Eine Frau in langem Blümchenkleid mit Jeansjacke drüber, Netzstrumpfhosen und schwarzen Schuhen kommt vorbei. Sie hört Musik. Die Mutter mit Kind geht ein paar Schritte weiter.
E
Die Mutter fährt jetzt das Kind im Wagen auf dem Bahnsteig hin und her. Ich nehme an, sie ist die Mutter, obwohl erfahrungsgemäß vieles nicht so ist, wie es aussieht. Das Kind schreit.

15:42
A
Jetzt kommt auch die andere Bahn, die Luftzüge kreuzen sich. Ein Schwall Leute steigt aus, ein kleiner Schwall. „Einsteigen bitte!“ und aus der anderen Richtung: „Zurückbleiben bitte!“
C
Die U8 ist eingefahren. Viele Menschen sind unterwegs. „Einsteigen bitte!“ Es geht Richtung Hermannstraße. Richtung Hermannstraße fahre ich, wenn ich zu meiner Freundin K. in Kreuzberg fahre. Das ist sehr praktisch. Reinsetzen und durchfahren bis Schönleinstraße.
D
Ja, ich höre die U‑Bahn schon, jetzt aus beiden Richtungen. Die, die Richtung Hermannstraße fährt, kommt zuerst, obwohl die andere vorher da sein sollte. Wir werden von einem Mann im Anzug beobachtet, er hat einmal rausgeschaut aus der Bahn.
E
Leer hier heute. Die schwarze, glattpolierte Säule neben mir ist von Peter Behrens, genau wie die Säulen in der U‑Bahn-Station Voltastraße. Das hat mir vor vielen Jahren mal ein anderer Fahrgast ungebeten mitgeteilt, seitdem muss ich immer daran denken, wenn ich hier unterwegs bin. „Unterwegs“, wie passend. Was sich hier, unter dem Weg, wohl noch verbirgt an historischen Kostbarkeiten, von denen ich nichts weiß?

15:43
A
Sie fahren ab mit einem kleinen Hauch Schweißgeruch. Ich setze die Maske wieder auf. Die Frau auf der Bank hinter uns hört Musik auf ihren Kopfhörern, die Musik dringt durch mein Tippen. Es ist Gesang, orientalisch. Ich schmecke Kaffee.
B
Von der Decke hängt ein gelbes Schild mit einem großen i und einem Pfeil drauf. Unter diesem Schild habe ich mich jahrelang jedes Mal hingestellt, als ich auf die U‑Bahn gewartet habe, wenn ich ins Theater gefahren bin. Es war der perfekte Ort zum Auf-die-U-Bahn-Warten, weil genau dort immer die vierte Tür ankam.
D
Ein Luftzug und beide Bahnen sind wieder weg. Noch 3 Min. und 4 Min., mal sehen, ob wieder die in 4 Min. zuerst da ist. Hinter mir hört jemand Rap. Jetzt wird telefoniert, sie geht gleich „Nauener Platz“. Zwei verabschieden sich. Man hört den Straßenverkehr von oben.

15:44
A
„Hallo“, sagt die Frau mit der Musik. „Waas?“ Und: „Ich bin Bernauer Straße.“ Und wieder: „Waas?“ Eine vorbeigehende Frau sieht uns einen Moment länger an, als man es tut, wenn man normale Wartende ansieht. Fünf Schreibende, fast ein normales Bild. Die Musik hat wieder eingesetzt.
B
Außerdem ist der Ort perfekt zum Warten, weil man dann, wenn man Alexanderplatz die U5 nehmen will, genau bei der Treppe zum anderen Gleis rauskommt.2
C
Irgendjemand hört laut Musik über Kopfhörer, jemand hinter uns auf der Wartebank. Das lenkt ab und nervt etwas. Wie immer, ehrlich gesagt. „Hallo“, „Ich bin Bernauer, gehe gleich Nauener Platz.“ Die Person mit der Musik telefoniert jetzt. Glaub ich zumindest. Ich drehe mich nicht um.
E
Zwei Bahnen sind gleichzeitig durchgerauscht, in beide Richtungen. Luft-Züge. Hinter uns haben jetzt künftige Fahrgäste Platz genommen, eine junge Frau telefoniert halblaut.

15:45
B
Eine Frau hinter uns hat angefangen zu telefonieren.

15:46
A
Ich wohne hier schon mein halbes Leben. Der Ort hat sich sehr verändert. Obwohl: hier unten eigentlich gar nicht so sehr. (Vor der Wende wohnte ich hier noch nicht. Da war es ein Geisterbahnhof.)
B
Die gelben Kacheln sind fast unbeschmiert. Nur ein einziger, kleiner, schüchterner Graffiti-Tag ist zu sehen, kurz vor dem Tunneleingang.
C
Hier ist’s schon eher triste. ‚Tristesse royale‘ vielleicht sogar. Habe keine romantische Erinnerung an diesen Ort. Eher so ein Gefühl von schnell in die Bahn und schnell wieder raus. Gerade fährt die Bahn Richtung Wittenau ein. Und schon wieder heißt es: „Zurückbleiben bitte.“ Alle fünf Minuten. Ein Grundrauschen.
D
Das Gespräch ist vorbei und die Musik durch Kopfhörer wieder an. Es ist erstaunlich still, da kommen schon wieder die U‑Bahnen, dieses Mal tatsächlich zuerst die U8 nach Wittenau. „Zurückbleiben bitte.“
E
Tatsächlich sagt gerade niemand etwas, ein seltener Luxus auf einem U‑Bahnsteig. Hinter unserem Rücken nimmt die Bahn nach Wittenau Fahrt auf. Leichtes Dröhnen, die Metallsitze vibrieren.

15:47
A
Die nächste Bahn fährt ein, mit ihrer stetig sinkenden Tonhöhe. „Achtung“, irgendwas. „Einsteigen bitte!“ „Zurückbleiben bitte!“ „Tuuuuuuut“. Warum wurde das jetzt nicht auch in dem anderen Lautsprecher gesagt?
B
„U8 nach Wittenau.“ „Einsteigen bitte.“ „Zurückbleiben bitte.“ (Zurückgeblieben?)
D
Zugverspätung, Geduld bitte steht an der Anzeige für die U nach Hermannstr. Eine Person redet. Zwei Jungen schlürfen an uns vorbei. Der eine isst und der andere dreht sich zu uns und schaut zu. Seine Kopfhörer baumeln aus der Maske raus.

15:48
A
Der Aufzug piept. „Tür schließt“, sagt eine Frauenstimme und die Stahlbox hebt sich in die Höhe. Zwei Grundschulkinder schlurfen vorbei. Sie haben sehr große Füße und eine knisternde Tüte mit Süßigkeiten.
B
Das erste Mal, an das ich mich erinnere, dass ich mit der U8 gefahren bin, war mit F. und seinem Papa. Da war ich zehn und wir hatten Vier-Fahrten-Tickets. Ich habe vergessen, das Ticket abzustempeln, und dann wurden wir kontrolliert. Zum Glück ist es nicht aufgefallen. Ich hatte ziemlich Schiss, weil der Papa von F. Polizist war. Leider ist er jetzt tot.
C
„Türe schließt“, sagt der Aufzug. Ein gut gelaunt singender Mensch kommt die Treppen herunter auf den Bahnsteig. Zwei Jungs, große Grundschüler, denke ich, warten auf ihre Bahn.
E
Direkt hinter meiner Schulter leuchtet ein junger Typ mit seiner Handytaschenlampe in den Mülleimer, tastet darin herum. Ich warte, bis er weg ist, bevor ich diesen Satz aufschreibe.

15:49
A
Ein Mädchen mit einem Geigenkasten und fettigem Haar.3 Jetzt eine besonders hallige Durchsage: „Nach einer Fahrzeugstörung haben mehrere Züge Verspätung. Haben Sie vielen Dank.“ Das Mädchen mit dem Geigenkasten hat sich exakt in die Lücke zwischen den beiden Säulen gestellt.
C
Also Grau. „Nach einer Fahrzeugstörung haben einige Fahrzeuge auf der U8 Verspätung.“ Seufz. Schön, dass wir nur schreiben. Schreiben im U‑Bahn-Schacht ist eher ungewöhnlich, aber eine schöne Abwechslung. Neonlichter von der Decke. Weiße gerippte Fliesen auf dem Bahnsteig bilden den Sicherheitsabstand zur einfahrenden Bahn.
D
Die Bank wackelt, weil sich jemand hingesetzt hat. Jetzt kommt die Durchsage: „Eine Fahrzeugstörung.“ „Never!“, ruft jemand und lacht. „Ich ruf gleich bei der Hotline an.“ Jetzt gibt es wieder mehr Gemurmel.
E
Eine Durchsage gibt eine „Fahrzeugstörung“ bekannt und sorgt damit unter den Wartenden für Gelächter. Plötzlich sind die Bahnsteige wieder voll. Die Sitze sind erstaunlich bequem, das ist mir noch nie aufgefallen. Nicht nur die Säulen sind durchdesignt.

15:50
A
Die Grundschüler mit den großen Füßen haben jetzt die Handys zusammengesteckt und schauen über Kreuz auf ihre Bildschirme. „Ich wiederhole“, sagt die hallige Stimme. „Fahrzeugstörung.“ Das Wort kenne ich gar nicht. Was soll das heißen? Panne?
D
Das ist so typisch, aber ich glaube, da kommt eine Bahn. Aber aus welcher Richtung? Wieder dieselbe Durchsage.

15:51
A
Ein durchgehender weißer Streifen markiert den Bereich, den man nicht übertreten soll, wenn die Bahn einfährt. Dahinter, mahnend gestrichelt der Bereich, den man nicht übertreten soll, wenn einem das Leben lieb ist. Unten im Gleisbett wohnen mutige Mäuse.
B
Zum zweiten Mal wird eine Durchsage gemacht, dass es eine „Fahrzeugstörung“ gibt und es deswegen zu „Taktlücken“ kommen kann. Bitte um Verzeihung.
C
Blinde Menschen können sich an den gerippten Fliesen auf dem Bahnsteig orientieren, soweit mir bekannt ist.
D
Wieder die Bahn nach Wittenau. Gemurmel und die Bahn ist weg. Es ist relativ wenig los.
E
Noch mal der Hinweis auf die „Fahrzeugstörung“, mittendrin rauscht die Bahn ein, übertönt die Ansage. Neben mir balanciert ein Mädchen einen Geigenkasten auf der Spitze ihres Turnschuhs. Sagt heute noch jemand ‚Turnschuh‘? Ich muss an einen Pinguin denken, der das Ei mit seinem Nachwuchs auf den Füßen balanciert, tagelang, in Schnee und Eis, während die Partnerin das Essen ranschafft.

15:52
A
Ein großer junger Mann sagt das Wort „Spandau“.
B
Links von uns ist der Fahrstuhl. Soeben ist eine Gruppe Menschen ausgestiegen, bestehend aus ein paar Kids, die in ihr Handy sprechen und einem sehr heiseren Mann, der mit seinen Kollegen diskutiert, wie er nach Spandau kommt.
C
Durch die Zugverspätungen gibt’s hier ein wenig Menschenstau. Aber alles entspannt. Die Menschen wollen nach Hause – entweder von der Schule heim oder von der Arbeit oder von sonst wo.
D
Links stehen mittlerweile ein paar Leute beim Aufzug. Die Jungen sind am Handy, sind sie am Zocken? Oder gucken sie, ob sie auch anders nach Hause kommen?

15:53
A
Bitte tragen Sie in Bussen und Bahnen FFP2-Masken und dasselbe nochmal in english. So lautet die Aufforderung im Bahnsteigs-Display, Abfahrtanzeige, oder wie nennt man das Ding?4 Die Bahn fährt ein.
B
Es ist sehr grün dort, es ist mit der grünste Bezirk in Berlin. Es gibt dort auch Ateliers und Übungsräume.
D
Noch ein Kind mit kleiner Brille. „Ich find das so süß, dass so ein kleiner Junge schon so ein Instrument durch die Gegend schleppt“, sagt der links von uns. Das habe ich mir auch gedacht.
E
Ein kleiner Junge mit großem Rucksack schleppt mühsam etwas an uns vorbei, was ebenfalls nach einem Instrumentenkoffer aussieht. Musiktag heute. Die Bahn Richtung Süden fährt durch, ohne anzuhalten.

15:54
A
Die Bahn fährt durch! Sie ist leer! Keine Menschenseele! Ein Geisterzug!
B
Rechts von uns sind zwei Kinder mit Instrumentenkoffern. Sie kommen mit ziemlicher Sicherheit aus dem Musikgymnasium, das direkt über uns ist.
C
In Richtung Wittenau nehm’ ich die Bahn gern bis Gesundbrunnen. Dann geht es weiter mit der Regionalbahn aufs Land. Gesundbrunnen steht natürlich auch für andere Assoziationen, aber die stimmen jetzt nicht mit der U‑Bahn überein.
D
Da kommt doch noch die Bahn zur Hermannstraße. Aber, äh, sie fährt einfach weiter. Zugdurchfahrt, ohne Durchsage.

15:55
A
Der Geisterzug war bestimmt das, was die hallige Stimme mit ‚Fahrzeugstörung‘ meinte. Der junge Mann neben uns redet zu laut und zu viel und er soll weg.5 Jetzt!
B
Huch, die U‑Bahn ist einfach durchgefahren. „Bitte nicht einsteigen.“ Wie auch, wenn sie nicht anhält. Die Jungs links von uns kommen meinem Fahrrad sehr nahe.
D
Jetzt steht dort Hermannstr. in 2 Min. Warten die alle auf die U‑Bahn oder warum stehen die so dicht beieinander, obwohl der ganze Bahnhof relativ leer ist?
E
Das Mädchen hat den Geigenkasten waagerecht abgestellt, um sich den Schuh zuzubinden. Zumindest nehme ich an, dass in dem Kasten eine Geige ist (vgl.15:41).

15:56
A
Ich betrachte einen kurzen Moment die flache, breite Typo der Ortsbezeichnung. Ist es auch eine Fliese? Das wäre schön.
C
Eine durchdringende Männerstimme quatscht auf die Peergroup ein. Keine Ahnung, was sie miteinander verbinden könnte. Jetzt fährt endlich wieder eine U‑Bahn ein und huuuup, sie verschluckt alle Menschen vom Gleis – und das, obwohl die Zugchefin sagt: „Ich bin voll, ich krieg nicht mehr rein.“
D
Jetzt kommt doch noch die U nach Hermannstraße, rappelvoll. Kein Wunder. Aggressive Durchsage von der U‑Bahn-Fahrerin: „Es passt nichts mehr rein, ich bin voll.“ Ich habe gerade gedacht, dass sie relativ leer geworden ist, also einige Bernauer ausgestiegen sind.
E
Bahn hinter uns, Bahn vor uns. Hupsignal. Wie viele Bahnen sind eigentlich eingefahren, seitdem wir hier sitzen? Stelle etwas erstaunt fest, dass mich diese Art von Statistik langweilt. Eine sehr volle Bahn fährt ein, Menschen quellen heraus. Genervte Durchsage der Schaffnerin. Ich freue mich über die Stil-Bandbreite von „Sehr geehrte Fahrgäste“ zu „Es passt nüscht mehr rein“.

15:56
A
Eine neue Bahn fährt ein, gestopft voll. Ich denke an die Fotos aus Tokyo von den vollgequetschten Zügen.6 „Sehr geehrte Fahrgäste“, meldet sich eine genervte Frau in voller Lautstärke. „Ich bin voll. Es passt nichts mehr rein.“
B
Der Heisere fährt Richtung Wittenau. Beide U‑Bahnen sind gleichzeitig da. Es wird voll.

15:57
A
Die mit der Geige ist immer noch da. Das edle Instrument ruht auf ihrem Fuß.
B
U8 nach Hermannstraße. „Sehr geehrte Fahrgäste da hinten, ich bin voll, es passt nichts mehr rein“, sagt die Lokführerin in Berliner Schnauze. Und meint natürlich die U‑Bahn.

15:58
A
Ein neues Kind mit Geige geht an uns vorbei und stellt sich zu ihr. Und ein alter Mann geht in ihre Richtung. Er hat die Arme nach hinten gerichtet und bewegt die Hand in dieser typischen Greisenhandbewegung.
B
Tür schließt. Der Fahrstuhl fährt nach oben. Das letzte Mal, dass ich mit der U8 gefahren bin, war, als ich mein Fahrrad von meinen Eltern abgeholt habe.
C
Kinder, Mutter mit Kinderwagen, ein älterer gebückter Mann. Aber mehrheitlich, würde ich sagen, ist das Publikum hier jung. Die nächste Bahn. Diese hat direkt um einiges weniger an Menschengepäck an ihr Ziel zu bringen.
D
Noch ein Junge mit Instrument. Vielleicht kommen die von der Schule direkt hier oben?

15:59
A     
Video steht auf der nächsten Bahn, ein stilisiertes Auge schaut mich an und der Greis steigt in die Bahn, mit seiner Hand.
B
Die meisten U‑Bahn-Fahrer:innen tragen Maske. Das finde ich gut, viel mehr Masketragende als in dem Biomarkt, in dem ich arbeite.
D
Ein älterer Mann dicht neben uns. Gebeugte Haltung, leicht eingeknickte Knie, seine rechte Hand nach hinten und wackelt damit. Schon die nächste U‑Bahn nach Hermannstraße, er steigt ein und murmelt irgendwas dabei.
E
Direkt vor mir verharrt ein gebeugter älterer Mann mit Rucksack, seine rechte Hand macht Greifbewegungen ins Leere, nicht weit von meinem Gesicht entfernt. Er macht einen Schritt vorwärts, steigt in die nächste Bahn. Gut so. Hat sich mein Bedürfnis nach Abstand in den letzten beiden Jahren verändert?

16:00
D
Wie lange noch?
E
„Zurückbleiben, bitte.“

  1. Hier wird nix gewischt. Oder doch? Ich google. ‚Reinigung nach Ergebniserwartungen auf den U‑Bahnhöfen der BVG in 7 Losen Referenznummer der Bekanntmachung: FEM2-0182–2020‘ und ‚Rechtsgrundlage: Richtlinie 2014/25/EU‘.
  2. A: Es klingt für mich, als hättest du eine schlimme Gehbehinderung, die dich jeden überflüssigen Meter vermeiden lässt. Aber ich weiß, dass du ein Mensch bist, der sich gerne bewegt, und denke über sportlichen Optimierungseifer nach: Alltag als Spiel. E: Also, ich mach das genauso. Vor allem, wenn ich die Bahn gerade verpasst habe, zum Zeitvertreib. Die zurückgelegten Meter bleiben doch die gleichen, oder hab ich da ’nen Denkfehler drin?
  3. Letzte Nacht schlaflos. Ich habe einen Beitrag über Wunderkinder gehört: Deutschlandfunk Kultur: Glanz und Elend von Hochbegabten (gekürzter Link zum Skript: ogy.de/tp20).
  4. Ich google: ‚Displaysystem‘. System ist ein angesagtes Wort. Wie Konzept und so. Ringen um Durchblick. Das Schreiben von Parallelprotokollen serviert dir Lücken in deinem Vokabular – mit großer ‚Klarheit‘.
  5. E: Ich habe in jedem Parallelprotokoll einen Lieblingssatz. Hier isses dieser. Im letzten, bei dem ich mitgeschrieben habe, lautete er: ‚An der Amsel ist ein roter Knopf.’ (Parallelprotokoll 25042213191339 Gruft, 13:34 C)
  6. Michael Wolf: Tokyo Compressions (gekürzt: ogy.de/k2st). Das erste Mal, dass ich die Fotos gesehen habe, war dort vorne im Fotobuchladen. Der ist jetzt leider weg. Herzinfarkt.

Weitergehen

Bernauer Straße

„Also inszenierst du dich und deine performative Faulheit hier als Diogenes im Müll, bist eigentlich aber jenseits der Bernauer zuhause, wo du mit USM-Haller-Regalen, Biedermeiermöbeln und Perserteppichen wohnst.“

Kreuzberg

Bis ich von diesem Mädchen las, das bei einer Dachparty in Kreuzberg in einen Schacht gefallen war und keiner hats gemerkt.

DDR

Ich kenne weder das Schlangestehen noch den Warenmangel der DDR aus eigener Erfahrung.

Fliesen

Hunde werden auf Stahlstufen von Rolltreppen bugsiert, auf denen sie hinab in U‑Bahn-Stationen fahren, wo sie schönste Fliesenkunst bestaunen können: den Vogel von Rainer G. Rümmler in Reinickendorf, die tieforangen Fliesen an der Frankfurter Allee, die den Untergrund im eisigsten Winter in ein warmes Licht tauchen.

Alexanderplatz

Wenn ich beschreiben müsste, wo ich schreibe, würde ich sagen: Wien-Alexanderplatz, Berlin-Karlsplatz, dazwischen.

Mülltonne

Neben den Mülltonnen türmte sich Abfall, Bauschutt, Steine, Stroh und Holzbalken.

Spandau

Wenn ich mich neben das Kreuz ans Ufer setze, habe ich einen schönen Überblick über die wenigen Schiffe, die hier zwischen Spandau und Mitte verkehren.

Geige

Einer beobachtet. Einer übt ein Stück auf der Geige.

Biomarkt

„Der ist viel zu schön. Und freitags ist dort Biomarkt. Und sonntags Flohmarkt. Nein danke.“

Kaffee

Wir trinken Kaffee aus der Thermoskanne, die ich mitgebracht habe, und essen Apfelkuchen, den Isabelle im Wedding gebacken hat.

Graffiti

Manche dieser Autoren gingen mit Fotoapparaten auf öffentliche Toiletten und knipsten Bilder von den Sprüchen und Graffitis an der Wand, um sie dann als literarische Readymades vorzutragen.

Gesundbrunnen

„zogen sich damals einsame, wie endlos scheinende Sandflächen bis nach Tegel […], bis zum Gesundbrunnen und einer Sahara-Wüste, die man den Wedding nennt […].”

Kinderwagen

Das Kind saß noch im Kinderwagen. Oder der Mann trug es in einem Umhängetuch an der Brust vor sich her.

Bahn

Wenn man dann weiß,
diese Bahn mit der Nummer 12 fährt
dort lang und hier kann man nicht
links abbiegen

Ein böser Nachbar ist fürchterlich, drum trägt die Schnecke ihr Haus mit sich.

Wander, Deutsches Sprichwörter-Lexikon, 1873

Über das Projekt

Die Anthologie NACHBARSCHAFTEN, herausgegeben von Christina Ernst und Hanna Hamel, ist eine Publikation des Interdisziplinären Forschungsverbunds (IFV) „Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur“ am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Seit 2019 erforscht das Projekt das Phänomen der Nachbarschaft in der Gegenwartsliteratur und bezieht dazu Überlegungen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen mit ein. In der im November 2020 online gestellten Anthologie können Leser*innen durch aktuelle Positionen und Perspektiven aus Literatur und Theorie flanieren, ihre Berührungspunkte und Weggabelungen erkunden und sich in den Nachbarschaften Berlins zwischen den Texten bewegen.