Der erste selbständige Umzug des Lebens brachte den jungen K. von der Stolpischen Straße in die Bergener Straße. Mit Aplomb und Türenschlagen und doch einer gewissen Rest-Unterstützung der Eltern. Der Durchgang zu dem Hinterhaus und der Wohnung im Dachgeschoss – schmaler Flur, Küche, Innentoilette, ein Zimmer – lag zur Bornholmer Straße. Der ausladende Nussbaum vorm Haus steht fünfundvierzig Jahre später noch da. K.s erster Sohn hatte damals gerade das Licht der Welt erblickt. Die Windeln trockneten in der Küche, wo K. saß, die Füße in einer großen, schwarz angemalten Kiste, auf der die Schreibmaschine stand.
In Erinnerung ist sonst fast nur noch das ausführliche Gespräch seiner Frau mit einer früheren Schulfreundin, die im Vorderhaus wohnte. Sie holte sich Rat. K. erfuhr zunächst nicht, worum es gegangen war. Die Freundin war Leichtathletin, Olympiakader. Von ihrem Vater und anderen Trainern zur Einnahme von leistungssteigernden Medikamenten aufgefordert, wollte sie aussteigen. Längere Zeit nach dem Gespräch sahen sie die junge Frau im Westfernsehen wieder. Sie wies die Packungen mit den Medikamenten vor und nannte die Namen der Sportvereine, der beteiligten Institutionen, der Trainerinnen und Trainer.
Der zweite Umzug führte nach achtzehn Monaten Wehrpflicht und der Trennung von Frau und Sohn in die Schliemannstraße, zweiter Hof, vierter Stock. Außentoilette, Küche, ein Zimmer von vielleicht acht Quadratmetern. Einen davon beanspruchte der Kachelofen. Im folgenden Winter heizte K. ihn so, dass sich seine Decke um ein paar Zentimeter anhob. Aber auch diese Anstrengung von Heizer und Ofen half wenig gegen die Kälte im Raum. Trotz der guten, schwarz glänzenden Bündelkohle, die sich K. nachts von den Anhängern der Kohlehandlung Schiele besorgte. Trotzdem er die Deckkacheln des Ofens zweimal neu verfugte. Im selben Aufgang wohnte der etwas ältere R. Er war Requisiteur an der Oper. Man quatschte miteinander. R. lud auch mal auf einen Kaffee ein. Allein lebend, oft melancholisch bis depressiv gestimmt, redete er vor allem davon, was und wer richtige Typen wären, Kerle eben, die Art Männer, nach denen er sich sehnte. An freien Abenden trieb es ihn die kurze Strecke zur Klappe hinter der Würstchenbude am U‑Bahnhof Dimitroffstraße. Erfolg hatte er selten, schlich sich wieder in seine Bude, innen so schwarz wie sein Hund Blacky von außen. Eines Tages brachte er K. die gute Nachricht, dass in einer etwas größeren, sicher wärmeren Wohnung im Seitenflügel wer ausgezogen sei. Und war auch gleich mit von der Partie, brach die verschlossene Wohnungstüre mit der Schulter auf, wusste die Registriernummer der Wohnung, kannte die Miethöhe und die Kontonummer zum Einzahlen. So lief das damals. Die staatliche Wohnungsverwaltung, der Lage in den einstürzenden Altbauten längst nicht mehr Herr, nahm das wie üblich hin und die Miete an. 90 Pfennige pro Quadratmeter. Von der Einheitspartei festgelegt wie die Preise für Brot, Butter, Milch. Seine Freunde und K. rechneten damals vor allem in gezapften Bieren, das Glas 0,25 Liter zu 0,51 Mark.
So also der dritte Umzug. K. lebte in dem etwas größeren sogenannten Berliner Zimmer mit Küche und Außentoilette ein paar gute Jahre. Einmal, eines Sommerabends, hatte es ein Gewitter gegeben. Im kleinen Kofferfernseher hatte bei den Abendnachrichten das Bild gezuckt. Am nächsten Nachmittag stand wieder einmal die Postfrau im Hof. Ein besonderes Exemplar von Postfrau. Alterslos und hinkend, schleppte sie ihre schwarze, schwere Ledertasche tagein, tagaus von früh bis spät durchs Viertel. Wenn sie stillstand, war es nicht wirklich still, irgendwie schaukelte sie immer vor sich hin. Und sie wusste alles, was im Viertel wichtig war. Sie trug die Verantwortung. Für alles. So schien es. Jeder redete irgendwann mit ihr, jeder erfuhr etwas und gab etwas preis. So kamen K. und sie auch heute ins Gespräch. Das Wetter, ja, das Wetter, nein, gestern dieses Gewitter. Und wie das Bild gezuckt hat, als es blitzte. Sie kramte kurz in ihrer Tasche, hielt ihm ein Formular entgegen mit der knappen Ansage: Sie haben also einen Fernseher, dann füllen Sie mal die Anmeldung aus für die Gebühren, hole ich morgen wieder ab. Und hinkte durch die Hofdurchfahrt davon.
Dann kam dieser Winter. Damals, so sagen die Alten, damals gab es noch Winter. Es war, wenn K. sich recht erinnerte, der von 1984 auf 1985. Vorher hatten die junge Wissenschaftlerin, die inzwischen in seinem Leben eine Rolle spielte, und K. sich auf die oben beschriebene Weise und mithilfe einer fürsorglichen Freundin die nächste Wohnung zugänglich gemacht und lebten schon in der Oderberger Straße. Umzug 3 ½ sozusagen.
Die Bude in der Schliemannstraße hatte K. vorsorglich weiter gehalten. Da war er inzwischen legalisiert, besaß einen Mietvertrag. So wurde der Winter diesmal zum Verbündeten. Der Trakt der Außentoiletten in dem fast entmieteten Hinterhaus hatte den sibirischen Minusgraden nicht standgehalten. Die Rohre waren geplatzt. Die Toilettenbecken waren geplatzt. So eine Kloschüssel mit einem fetten Eispilz darüber sieht toll aus! Die Linoleumstufen des Treppenhauses waren von einem durchgehenden Eispanzer überzogen. Grund genug, bei der Verwaltung vorstellig zu werden.
Tatsächlich kam es auf diese Weise zur beinahe gewöhnlichen Anmietung der fünften Wohnung innerhalb von zehn Jahren, zu Umzug Nummer vier. Sie hatten ein Auge auf zwei Zimmer, Bad und Küche in einem sogenannten Sanierungsgebiet geworfen. Was für einen Tanz K. auf der Kommunalen Wohnungsverwaltung aufführte, wie er, sich selbst mehr als peinlich, seine bisher erschienen Bücher über den Schreibtisch der Verwaltungstante schob, als wären es Geldbündel … Groteske Szenen aus einem untergegangenen Land, aus einer Stadt, die es nicht mehr gibt.
Medikamente
Zwischen den Fenstern, die in den baumbestandenen Innenhof hinausgingen, stand der Medizinschrank, in dem sich aber keine Medikamente, sondern Gläser und Porzellan befanden.
Küche
…Neubauwohnung, die sind ja wunderschön, aber da kosten zwei Stuben mit Küche 88 Mark im Monat.
Ofen
Sie muss einfach irgendwann selbst bemerkt haben, dass eine einfache Geschichte über eine verstorbene Katze keinen Hund hinterm Ofen hervorlockt.
Kaffee
Die Frau auf der Bank hinter uns hört Musik auf ihren Kopfhörern, die Musik dringt durch mein Tippen. Es ist Gesang, orientalisch. Ich schmecke Kaffee.
Wohnungstür
Einmal ertappte ich sie, wie sie im Nachthemd, das Messer in der Hand, vor unserer Wohnungstür stand.
Altbauten
Der ‚Stumme Portier‘ im Eingangsbereich des Altbaus im kleinen Moabiter ‚Protestantenviertel‘ (aka ‚Thomasiuskiez‘), in dem ich wohne, hat noch weniger zu sagen als früher…
Mietvertrag
Wer einen guten, alten Mietvertrag oder eine der günstigen Wohnungen in Seitenflügeln, Hinterhäusern hat, denkt nicht daran, fortzuziehen.
Hausverwaltung
Brief von der Hausverwaltung? – Ja, mit Mieterhöhung.
Decke
Es sind vielleicht fünfzig Frauen im Raum, vielleicht mehr, es ist ein hundert Quadratmeter großer Raum mit anthrazitfarbenem Linoleumboden und fünf Meter hohen Decken.
Dachgeschoss
Im Haus selber gab es keine Chance, sich herauszuhalten. Kaum waren wir eingezogen, begannen Schwammsanierung und Dachgeschossausbau durch einen Herren, dem die Bewohner mehr als gleichgültig waren.
Seitenflügel
Wer einen guten, alten Mietvertrag oder eine der günstigen Wohnungen in Seitenflügeln, Hinterhäusern hat, denkt nicht daran, fortzuziehen.
Kälte
Sowieso, Kälte. Kälte, wohin man fühlte. Kaltes Wasser. Kalte Luft. Kalte Stimmen.
Oderberger Straße
Brot
Prousts Zeit war für seine Queerness nicht reif. Gebäck in Tee getunkt, die dadurch geweckten Erinnerungen an Vergangenes, dabei könnte es sich in Wirklichkeit um Brot gehandelt haben, das, ähm, in Urin getunkt wurde.
Schreibtisch
Ja, ja, sagt Herr Tiberius, der hier neben mir am Schreibtisch sitzt.
Hinterhaus
Schau deinem Nachbar ins Gesicht, aber nicht in die Schüssel.
Wander, Deutsches Sprichwörter-Lexikon, 1873
Über das Projekt
Die Anthologie NACHBARSCHAFTEN, herausgegeben von Christina Ernst und Hanna Hamel, ist eine Publikation des Interdisziplinären Forschungsverbunds (IFV) „Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur“ am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Seit 2019 erforscht das Projekt das Phänomen der Nachbarschaft in der Gegenwartsliteratur und bezieht dazu Überlegungen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen mit ein. In der im November 2020 online gestellten Anthologie können Leser*innen durch aktuelle Positionen und Perspektiven aus Literatur und Theorie flanieren, ihre Berührungspunkte und Weggabelungen erkunden und sich in den Nachbarschaften Berlins zwischen den Texten bewegen.