1. Berlin Ostbahnhof
Ein Abend im Januar 2022. Kurz hinter der Schillingbrücke, die vom Ostbahnhof nach Kreuzberg führt, fällt mir ein junger Mann auf, der mit Rollkoffer unschlüssig an der Kreuzung steht. Er spricht die Vorübereilenden auf Englisch an, ob sie ein paar Euro entbehren können, er habe zu wenig Geld für die Übernachtung im Hostel. Ich bleibe stehen und komme mit ihm ins Gespräch. Schnell wechseln wir ins Russische: Er ist aus Belarus, erst heute in Berlin angekommen.
P. war Grenzsoldat. Auf längerfristige Absicherung hoffend hatte er sich vor einigen Jahren für den Armeedienst verpflichtet, als ausgebildeter Hundetrainer reichte das Geld nicht. Die für das belarussische System der staatlichen Sicherheitsorgane üblichen ideologischen Indoktrinationen und strengen Hierarchien, mit unbedingtem Loyalitätsanspruch, nahm er in Kauf. Doch dann wurde er an die belarussisch-polnische Grenze versetzt, wo seit Monaten tausende Menschen aus Syrien, Afghanistan, Irak und anderen Ländern unter unmenschlichen Bedingungen festsitzen, vergessen von Europa, eingeklemmt zwischen zwei Nachbarregierungen, die auf ihren Rücken skrupellos ihre Interessenskonflikte austragen. Von Lukaschenkas falschen Versprechungen, dass die EU von dort sicher zu erreichen sei, nach Belarus gelockt, werden die Migrant:innen von belarussischen Grenzbeamten immer wieder zu illegalen Grenzübertritten gedrängt oder gar gezwungen, worauf die polnische Seite mit brutalen Pushbacks reagiert. Die EU schaut dabei zu. Einer dieser Grenzschützer war P. Was er in den Wäldern zwischen Belarus und Polen erlebt habe, könne ich mir gar nicht vorstellen. Die Menschen sterben an Erschöpfung nach der langen Flucht, an Kälte, Hunger, Durst und an der Gewalt. Und das nur, weil sie aus dem ‚falschen‘ Land kommen. Als seine Vorgesetzten ihm befahlen, seinen Hund auf die wehrlosen Menschen zu hetzen, beschloss P., seinen Dienst zu quittieren und das Risiko der heimlichen Ausreise einzugehen. Deserteure werden in Belarus hart bestraft. Nun steht er hier in der Nähe des Ostbahnhofs, ohne seinen geliebten Hund, ohne Job oder Geld.
Seine Geschichte anonym zu publizieren will er sich überlegen, die Vermittlung an Netzwerke, über die er bürokratische Unterstützung und Rechtsbeistand bekommen könnte, lehnt er ab, zu groß ist die Angst, in eine Falle zu tappen, auch hier. Die Ampel schaltet zum x‑ten Mal wieder auf grün. Wir verabschieden uns. Er geht Richtung Hostel. Seinen erschütternden Bericht, seine Tränen und seine Angst nehme ich mit auf meinem Weg zum Kottbusser Tor.
2. Am Wriezener Bahnhof – Unter den Linden
Seit dem 24. Februar, seitdem Russland seinen Krieg gegen die Ukraine in einen verbrecherischen, völlig grundlosen Angriffskrieg erweitert hat, ist alles anders (wenn auch nicht für die Menschen an der Grenze zwischen Belarus und Polen). Blankes Entsetzen, Bitterkeit, Trauer, dann kommt die Wut. Konzentration fällt schwer, mein Blick geht öfter nach draußen als zum Monitor. Auf einem der Dächer im Quartier am Wriezener Bahnhof flattert eine Ukraine-Flagge. Eigentlich bin ich eher skeptisch gegenüber derartigen (leeren) Empathiebekundungen. Doch je länger sich der Krieg hinzieht, desto dringlicher wirken die ukrainischen Flaggen als Solidaritätsmarker im öffentlichen Raum.
Die Farben der Ukraine sind seit Kriegsbeginn in der ganzen Stadt zu sehen, das Brandenburger Tor wurde für ein paar Abende in Ukraine-Farben getaucht. Schade, denke ich, dass an der Russischen Botschaft in Berlin nicht ein ähnlicher Coup gelungen ist wie in Hamburg. Dort war das russische Generalkonsulat in einer Schnellaktion in den ukrainischen Nationalfarben bestrahlt worden. Düster und verschlossen steht der monströse Bau der russischen Botschaft Unter den Linden da und lässt an seiner kalten Fassade alles abprallen. Auf dem Grünstreifen vor dem Gebäude, der sonst zum Flanieren einlädt, hat Vitsche, der Verein Junger Ukrainer in Deutschland, schon Anfang des Jahres zu Protesten gegen einen drohenden Einmarsch Russlands in der Ukraine aufgerufen. Hier traf man teils die gleichen Gesichter wieder, die zuvor gegen die Zerschlagung der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial protestierten. Es half nichts, alles ist genauso gekommen wie befürchtet. Ein Funken metaphorisch-naiver Hoffnung bleibt: Bekommt nicht jeder Bau eines Tages Risse, durch die das Leben aus der Außenwelt eindringen, die Wände porös werden lassen und das vermeintlich stabile Gebäude zum Einstürzen bringen kann?
3. Allesandersplatz
Vielerorts vermischen sich die gelb-blauen mit den rot-weiß-roten Farben der belarussischen Protestbewegung – Dynamik einer vernetzenden Solidarität. Sie verbindet viele Ukrainer:innen und Belarus:innen miteinander, die dem Krieg in der Ukraine und dem repressiven und kriegsunterstützenden System in Belarus entkommen sind und in Berlin Zuflucht gefunden haben. Und auch mit jenen, die schon lange hier leben und oftmals gegen das russlandzentrierte Osteuropabild vieler Deutscher anrennen. Einer der vielen Orte, an dem gelebte Solidarität in die Tat umgesetzt wird, ist das zur Zwischennutzung für freie künstlerische und soziale Projekte zur Verfügung gestellte Haus der Statistik. Gelebte Nachbarschaft als produktives work in progress. Auf dem Dach des entkernten Gebäudekomplexes am Alexanderplatz ist weithin sichtbar der Schriftzug ‚Allesandersplatz‘ montiert. Griffiger könnte die vehemente Einladung zum Nachdenken über die radikalen Veränderungen nicht ausgerufen werden. Hier ist seit 2020 auch einer der wichtigsten Treffpunkte der belarussischen Diaspora untergebracht: der Berliner Standort von Razam e.V.1, gegründet am Tag der gefälschten Präsidentschaftswahlen in Belarus und als Interessensvertretung der Belaruss:innen, die sich für freie Wahlen und ein Ende der staatlichen Gewalt einsetzen. Die Räumlichkeiten versprühen den Charme kreativer Mehrzwecknutzung. Sie sind Werkstatt, Ausstellungs- und Konzertraum, Lesebühne und vor allem: Begegnungsort. Alles in einem. Das Motto von Razam „Mit Kreativität gegen die Diktatur“ wurde nach dem 24. Februar sofort in tatkräftige humanitäre Hilfe in Form von Spendenaktionen und Organisation von Hilfstransporten für die Ukraine umgesetzt. Denn für alle steht außer Frage: Die Solidarität mit und das Eintreten für die Ukraine gegen die Aggression Russlands steht an erster Stelle. Nebenan wurde, gemeinsam koordiniert von Vitsche, Razam, der Berliner Stadtmission, dem Zentrum für Kunst und Urbanistik und vielen anderen Initiativen, im Nullkommanichts das Café Ukraine2 ins Leben gerufen: ein Ort der Begegnung und der praktischen Unterstützung mit und für Ukrainer:innen.
Informations- und Kulturveranstaltungen erreichen nicht nur die eigene Community: Im Mai berichtet eine ukrainische Kuratorin mit einer Gruppe an Dokumentarfilmerinnen von der russischen Invasion und den verheerenden Zerstörungen in Mariupol. Sie haben überlebt. Sie sind in Berlin, in Sicherheit. Freund:innen und Familie in der Ukraine sind es nicht. Daher machen sie unermüdlich mit Hilfs- und Informationsaktionen weiter. Parallel ist in den Nachbarräumen eine belarussische Fotoausstellung zu sehen. Die Künstler:innen sind in Belarus täglich in Gefahr verhaftet zu werden. Ähnlich wie viele regimekritische Kolleg:innen in Russland, wenn sie nicht ohnehin schon längst ausgereist sind. Das Engagement gegen den russischen Imperialismus, das Entsetzen über seine zerstörerischen Aggressionen, aber auch die Wut über die Überheblichkeit des Westens schweißt zusammen. Schweißt zusammen und trennt. Der Alexanderplatz ist der Allesandersplatz. Alles anders auch mitten in Berlin. Unter den montierten Buchstaben des Haus der Statistik prangt in blutroter Schrift: „No wars“.
In vielen Ecken Berlins sind Anlaufpunkte für Aktivist:innen und Kulturschaffende aus Osteuropa zu Organisationszentren für Ukrainehilfe geworden. Und sie verändern auch ihre Nachbarschaften: die Bar Space Meduza in der Skalitzer Straße, Gründungsort von Vitsche, ist zentraler Treffpunkt für junge Ukrainer:innen in Berlin, aber auch die Panda platforma in der Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg, die Kvartira 62 im Wrangelkiez, die Neue Nachbarschaft Moabit und das Strandbad Tegel und viele mehr. Sie alle zeigen, wie solidarisches Handeln und sich Positionieren auch über manche Dissense hinweg im horizontalen und vielsprachigen Miteinander funktionieren kann.
4. Berlin überall
Meine Wege durch die Stadt verändern sich. Ich bin nun häufiger auch als Nicht-Reisende am Südkreuz und am Hauptbahnhof, bemühe mich Ukrainisch besser zu verstehen und zu sprechen; Fragen nach Wegbeschreibungen und Organisatorisches möglichst verlässlich zu beantworten gelingt dann doch besser auf Russisch. Die Sprachen mischen sich. Auf welcher Sprache viele der erschöpft Ankommenden von meist tagelanger Flucht aus der Ukraine erzählen, ob auf Ukrainisch, Russisch oder Englisch oder manchmal auch Deutsch, ist den meisten vorerst egal. Einmal begleite ich eine Dame, die auf dem Weg zurück nach Kyjiw ist, für ein paar Stunden bei ihrem Zwischenaufenthalt in Berlin. Von der unwirtlichen Gegend um den ZOB ist das Schloss Charlottenburg zum Glück nicht weit. Unterwegs durch den Park wird um uns herum fast nur Russisch gesprochen. Sie hört schneller als ich ukrainische, belarussische und andere Akzente heraus und freut sich: Das sogenannte ‚russische Charlottenburg‘ ist viel mehr als das, es ist russophon-polyphon.
Auch meine naheliegenden Alltagswege verändern sich – durch unerwartete oder ungeplante Anwesenheiten von Menschen in Berlin, mit denen ich sonst eher über die Entfernung zu tun habe und für die Berlin nun längerfristiger oder vorübergehender Aufenthaltsort (nach Flucht oder Ausreise) geworden ist. Inspirierende (Neu)Entdeckungen (ost)europäischer Nachbarschaften in Berlin: Um die Ecke in Kreuzberg liest eine belarussische Schriftstellerin, die ich längst kennenlernen wollte, in einer schummrigen kleinen Kneipe; auf der Roten Insel in Schöneberg höre ich ergriffen eine vielempfohlene Songwriterin im Duett mit einer DJane, beide aus Minsk; eine Verabredung mit einer Freundin verlagern wir nach langer Corona-Pause kurzerhand in eine Ausstellung mit ukrainischen Künstler:innen am Nöldnerplatz in Lichtenberg; in der Galerie KVOST in der Leipziger Straße in Mitte werden mir wunderbare belarussische Fotografinnen nahegebracht; in der Leibnizstraße in Charlottenburg entdecke ich mit meiner Tochter bei einem der selten gewordenen Afterschool-Spaziergänge das neue Zentrum für geflüchtete Künstler:innen Ukrainian Cultural Community; mit einer jungen Kyjiwerin, die kurz bei uns unterkommt, erkunde ich Stationen von der Karte Ukrainian Places in Berlin3 bei einer Veranstaltungsreihe zu Belarussischer Kultur im HAU am Tempelhofer Ufer treffe ich viele bekannte und unbekannte Menschen aus der unabhängigen belarussischen Kulturszene. „Fast wie in Minsk“, scherzt eine von ihnen. „Alle sind da, wir können gleich hierbleiben und weitermachen“. Das mit dem Hierbleiben bleibt schwierig. Das Zurückfahren ebenso. Die einen gehen das Risiko ein, zu Hause verhaftet zu werden. Die anderen können nicht zurückkehren, da ihre Heimat und ihre Wohnungen von russischen Geschossen zerstört wurden und Russland weiter ihre Leben bedroht. Alles ist anders. Was bleibt ist trotz allem und erst recht die Freude an der Begegnung mit und in temporären Gemeinschaften, die in Berlin die Topographie osteuropäischer Kultur und Kunst sichtbarer machen, Sichtbarkeiten schaffen, kritische Räume öffnen, um überholte ‚westliche‘ und ‚östliche‘ Perspektiven zu hinterfragen.
Der Text wurde im Mai 2022 verfasst.
- Belarussisch: разам/razam = deutsch: gemeinsam
- Modellprojekt Haus der Statistik: https://hausderstatistik.org/standwithukraine/
- Ukrainian Places in Berlin: https://ukraineverstehen.de/wp-content/uploads/Bienert-KARTE_en71.pdf
Dieser Text steht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 Germany. Das Urheberrecht liegt bei der Autorin.
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Wer einen guten Nachbar hat, ist wohl bewacht bei Tag und Nacht.
Wander, Deutsches Sprichwörter-Lexikon, 1873
Über das Projekt
Die Anthologie NACHBARSCHAFTEN, herausgegeben von Christina Ernst und Hanna Hamel, ist eine Publikation des Interdisziplinären Forschungsverbunds (IFV) „Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur“ am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Seit 2019 erforscht das Projekt das Phänomen der Nachbarschaft in der Gegenwartsliteratur und bezieht dazu Überlegungen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen mit ein. In der im November 2020 online gestellten Anthologie können Leser*innen durch aktuelle Positionen und Perspektiven aus Literatur und Theorie flanieren, ihre Berührungspunkte und Weggabelungen erkunden und sich in den Nachbarschaften Berlins zwischen den Texten bewegen.