Wir stiegen die Stufen hinunter. Orangefarbene Kacheln an den Wänden. Ein dumpfer Geruch. Ein lautes Scheppern des einfahrenden Zuges. Meine kleine Hand in deiner großen Hand. Mein Kopf an deinen Rücken gelehnt. Immer diese komische Angst in meinem Bauch. Vor dir. Vor mir. Vor uns.
Ich weiß nicht genau, wie alt ich war. Vielleicht fünf. Vielleicht sechs. Niemals sieben, weil da warst du schon weg und niemals vier, weil da warst du noch da gewesen.
Wir setzten uns auf eine braun angestrichene Holzbank und warteten auf den nächsten Zug. Wohin wir wollten, erinnere ich nicht. Woher wir kamen, auch nicht. Aber die Möglichkeiten waren nicht endlos. In diesen Jahren. 1986 oder 1987. Ost-Berlin. Alles beige. Monochrom. Die Häuser, die Straßen, die Menschen, die Kleidung. Ein Beige-Verlauf. Von hell zu dunkel und wieder zurück. Bloß keine starken Farben, bloß kein lautes Wort, bloß kein Aus-der-Reihe-Tanzen. Die Telefone knackten und dann wusste man, es gibt einen Zuhörer mehr, oder zwei oder drei. Die Einschusslöcher in den Häuserwänden. Am Ende eine Patronenhülse. Die Toiletten auf dem Gang. Die Duschen in der Küche. Die Ofenheizungen, die nachts die Kraft verließ und einen frierend aufwachen ließen. Sowieso, Kälte. Kälte, wohin man fühlte. Kaltes Wasser. Kalte Luft. Kalte Stimmen. Und dann dazwischen ein Hauch von frisch gewachstem Linoleum.
Immer freitags Fahnenappell im Pionieroutfit. Stramm stehen. Ruhe bewahren. Fröhlich mitsingen. Sich einfügen. Danach gab es dann Fruchtmilch aus dem Tetra Pak. Die Dreiecke lagen in einem großen Plastikbehälter. Vanillegeschmack. Schokoladengeschmack. Erdbeergeschmack. Drei Sorten, ohne Vergnügen. Denn am Ende riss die Packung immer im Schulranzen und alles war eingesaut. Die Bücher, die Stifte, die Hefte, der Pionierausweis. Den habe ich nach wie vor. Immer noch wellig von der ausgelaufenen Milch. Wenn man ganz nah rangeht, kann man sie noch riechen. Ein Artefakt. Ein Objekt, dessen Geschichte nur ich erzählen kann. Weil ich da war. Weil ich mich erinnere an diesen Tag. Weil ich mich erinnere an das Gefühl, mit dem wir ins Wochenende entlassen wurden, um dann am Samstagmorgen doch wieder im Klassenraum zu sitzen.
Und weil du schon nicht mehr zuhause lebtest, und weil Schule bis zum Mittag ging, kann es nur ein Samstag- oder Sonntagnachmittag gewesen sein. So macht man das doch mit der Erinnerung, oder? Man versucht diese flüchtigen Momente, die als Blitze im Gedächtnis auftauchen, irgendwie einzuordnen. In realexistierende Fakten zum Beispiel. Aber am Ende bleibt das selbstverständlich alles eine Lüge. Das wissen wir doch.
Unser Zug fuhr ein. Du liefst vor. Ich hinter dir her. Wie immer eigentlich. Eine klebrige Sitzfläche. Ein entfernter Mensch. Lichtjahre weit weg. Und ich ganz bedürftig. Wo bist du? Wann kommst du? Wie lange bleibst du dann? Eine silberne Kette um deinen Hals. Mit einem Anhänger. Ein Davidstern. Schön geschwungen. Filigran hergestellt. Fragil und gleichsam unzerbrechlich. Wie du. Wie ich. Wie wir. „Was bedeutet diese Kette?“, habe ich gefragt. „Dass ich Jude bin“, hast du geantwortet. Ich wollte wissen, ob ich auch bin, was du bist, und du hast nur genickt.
Weitergehen
Zuhörer
„Ich“ lädt zur Identifikation ein, zur Projektion. Die Ich-Perspektive zieht Leser/Zuhörer direkt in den Text hinein.
Erinnerung
Im September 2020 war ich mit meinem Sohn, der nur vage Erinnerungen an die Ereignisse von damals hat, in Greifswald, weil das Theater Vorpommern Angst auf die Bühne gebracht hatte.
Jude
Der sowjetische Antisemitismus drückt sich im Asylheim in diversen ‚Anekdoten‘ und ‚lustigen‘ Sprüchen über Juden aus.
Küche
Die Windeln trockneten in der Küche, wo K. saß, die Füße in einer großen, schwarz angemalten Kiste, auf der die Schreibmaschine stand.
Ost-Berlin
Linoleum
Es sind vielleicht fünfzig Frauen im Raum, vielleicht mehr, es ist ein hundert Quadratmeter großer Raum mit anthrazitfarbenem Linoleumboden und fünf Meter hohen Decken.
Unsere Nachbarn bringen ihr Recht mit sich.
Wander, Deutsches Sprichwörter-Lexikon, 1873
Über das Projekt
Die Anthologie NACHBARSCHAFTEN, herausgegeben von Christina Ernst und Hanna Hamel, ist eine Publikation des Interdisziplinären Forschungsverbunds (IFV) „Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur“ am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Seit 2019 erforscht das Projekt das Phänomen der Nachbarschaft in der Gegenwartsliteratur und bezieht dazu Überlegungen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen mit ein. In der im November 2020 online gestellten Anthologie können Leser*innen durch aktuelle Positionen und Perspektiven aus Literatur und Theorie flanieren, ihre Berührungspunkte und Weggabelungen erkunden und sich in den Nachbarschaften Berlins zwischen den Texten bewegen.